Marie NDiaye: Die Rache ist mein, Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer, Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 237 Seiten, €22,00, 978-3-518-43031-6

„Wie hätte ich ahnen sollen, dass ich die Kinder nicht mehr ertrug, dass ich darum betete, dass Gilles mit ihnen bei einem Unfall umkam, so dass ich mich frei und traurig wiederfände, frei und verzweifelt, und endlich erlöst von seinem allwissenden Auge, von Gilles‘ Blick, der sondierte und verurteilte, auch wenn seine Lippen sich zu einem ewigen Lächeln verzogen? Ich werfe Gilles Prinzipaux nichts vor, würde Marlyne schließen.“

Eines Tages steht Gilles Principaux in der nicht gerade erfolgreichen Kanzlei der zweiundvierzigjährigen Anwältin Maître Susane. Natürlich würde sie sich lieber ein großes Auto leisten und nicht diesen alten Twingo fahren, doch die Einnahmen der Kanzlei geben das nicht her. Maître Susane hat eine wage Erinnerung an Gilles Principaux, den sie als Jugendlichen glaubt kennengelernt zu haben. Einst hatte ihre Mutter als Büglerin im Haushalt der wohlhabenden Familie Principaux gearbeitet. Susane war oft bei der Mutter und denkt, dass Gilles ihr begegnet ist, als sie zehn Jahre alt war und dabei muss für sie etwas passiert sein.
Er jedoch hat keine Erinnerung an sie, denn ihn bedrückt eine familiäre Tragödie. Seine Frau Marlyne hat ihre drei Kinder gnadenlos getötet. Im Grunde für einen Anwalt ein aussichtsloser Fall, denn ein Justizirrtum kann nicht vorliegen. Doch warum tötet eine Frau ihre Kinder? Wie kann eine gebildete Frau, die als Französischlehrerin gearbeitet hat, von der alleinstehenden Mutter zu einer emanzipierten Frau erzogen, sich nach dem ersten Kind völlig in der Mutterrolle aufgehen? Warum glaubt sie, dass sie sich als Perfektionistin von ihnen befreien muss und damit so ihren desinteressierten Mann von den Kindern entlastet? Hat der Ehemann Marlyne, die auch immer mehr an Gewicht zugenommen hat, jegliches Selbstvertrauen genommen, ihre Freunde vergrault und sie zu einer einsilbigen und unscheinbaren Ehefrau gemacht? War der Tod der Kinder die Rache für die Scheinheiligkeit des Ehemannes? Wie schmerzhaft und sinnreich ist ein sozialer Aufstieg, der Figuren vor ungelöste Probleme stellt?
Eigenartig sind Gilles Principaux‘ ständigen Besuche im Gefängnis, seine Anhänglichkeit an seine Frau, die ihn nicht mehr ertragen kann.

Glaubt der Leser und die Leserin nun, es gehe ausschließlich um die Kindestötung in Bordeaux, deren Hergang schon schwer zu ertragen ist, so irrt er.
Marie Ndiaye umkreist eher das Umfeld von Susane ( Ihre wahren Gedanken sind in den kursiv gehaltenen Passagen zu lesen.) und ihre Stellung in der französischen Gesellschaft, in die sie aufgestiegen ist. Kommen die Eltern eher aus einfachen Verhältnissen, so stellt die Tochter doch etwas dar. Bei Nachfragen nach der Familie Principaux jedoch beginnen erste Unstimmigkeiten, besonders mit Susanes Vater, der dem einst Jugendlichen unterstellt, er habe seiner Tochter etwas angetan.
Maître Susane, die nur so benannt wird, beschäftigt als Putzfrau in ihrer kleinen Wohnung auch aus politischem Engagement Sharon aus Mauritius, die mit ihrem Ehemann und zwei Kindern illegal in Frankreich lebt. Maître Susane kümmert sich auch um die Aufenthaltserlaubnis der Familie. Zwischen den Frauen herrscht keine Vertrautheit, aber ein freundlicher Ton. Nichts lässt Sharon auf ihre Arbeitgeberin kommen und doch spüren die LeserInnen eine seltsame Anspannung, denn Sharon scheint außerhalb der Wohnung nichts mit Maître Susane zu tun haben zu wollen. Als sich herausstellt, dass Sharon in ihrer Arbeitszeit bei Maître Susane noch bei zwei anderen nicht so wohlwollenden Frauen arbeitet, kippt die Stimmung um einiges. Und dann erbittet Maître Susane Sharons Heiratsurkunde, die die Verwandten in der Heimat angeblich nicht nach Frankreich senden.

Aus den literarischen Figuren heraus erfährt der Lesende, was sie denken, wo sie stehen und warum sie wie handeln. Es geht um Widersprüche, Ungewissheiten, Ambivalenzen und gesellschaftlichen Missstand.
Eine fesselnde Lektüre.