Seraina Kobler: Nachtschein, Diogenes Verlag, Zürich 2023, 286 Seiten, €18,00, 978-3-257-30094-9
„Wer lang genug bei der Polizei war, kannte die andere Seite der Welt, kannte das, was hinter berieselnden Klangteppichen und blitzenden Einkaufspassagen lag, die Armut, die unbezahlten Rechnungen, Zwangsvollstreckungen, der Dreck. Hoffnungslosigkeit und Desillusion, jeden Tag neu miterlebt, wurden Teil der eigenen Realität. Eine Realität, der sich Rosa in ihren Jahren bei der Seepolizei größtenteils hatte entziehen können.“
Doch nun kehrt für Rosa Zembrano, die bei der Seepolizei am Forellensteig in Zürich arbeitet, alles wieder zurück, denn im neuen Fall, der im kalten November spielt, ist auch ein Obdachloser involviert. Er wird Zeuge eines Verbrechens und wird dann auch selbst verdächtigt. Bei einem nächtlichen Großeinsatz am Hafen versuchen die Einsatzkräfte mehrere Boote, die in Brand geraten sind, zu löschen. War es ein Versehen, was es vorsätzliche Brandstiftung, sollte eine Tat durch den Brand verdeckt werden? Der Obdachlose Karl Jost, der lang auf der Straße lebt und einen Schlafplatz am Hafen hat, hat früher selbst Brände gelegt und gerät nun in den Focus der Ermittler.
Seraina Kobler baut ihre Krimis so auf, dass die Lesenden eigentlich immer mehr wissen als die Ermittler. Diesmal jedoch kennen die Lesenden zwar das Opfer, aber sie wissen nicht, wer der brutale Vergewaltiger war, und ob dieser den Brand entzündet hat.
Nach dem Brand entdeckt die Feuerwehr eine Leiche. Es ist die attraktive Iva, die mit Ruben Engler befreundet ist. Seinem Vater, Manfred Engler, gehört das Boot „Amethyst“, auf dem sich Iva und Ruben getroffen haben. Als Ruben das Boot etwas angesäuert verlassen hat, wird Iva überfallen.
Bei diesem Fall stoßen zwei Welten aufeinander, zum einen die der wohlhabenden Schweizer und die derjenigen, die auf der Straße leben. Iva und ihre Mutter hatten ein ziemlich schlechtes Verhältnis, zumal die Mutter als Architektin all ihre Energien in ein neues Bauprojekt namens Urban Utopia gemeinsam mit dem doch sehr labilen wie arroganten Martin Engler als Investor gesteckt hat. Auch Engler hat zu seinem Sohn kein Vertrauensverhältnis, wenn ihm etwas nicht passt, schlägt er brutal zu. Englers Frau wurde vor kurzem gerettet, denn sie hatte versucht, sich mit Tabletten umzubringen.
Rosa arbeitet wieder mit ihrem Kollegen Martin zusammen, der um Jahre jünger, nun eine Beziehung mit Rosa eingegangen ist. Sie möchte weiterhin unbedingt ein Kind. Als ihr langjähriger Freund Leo auftaucht, lässt sich Rosa wieder auf ihn ein. Allerdings ist sie skeptisch, ob sie wirklich mit ihm wieder zusammen leben will. Zumal sie auch über ein neues, verlockendes Jobangebot der Staatsanwältin Ryser nachdenken muss.
Durch die Obduktion der Brandleiche wurde festgestellt, dass es zu gewaltsamen Handlungen vor Ivas Tod kam. Alle männlichen Kontaktpersonen von Iva müssen nun DNA-Proben abgeben. Die Polizeiarbeit dreht sich jedoch im Kreis, denn der Obdachlose Jost kann nicht der Täter sein. Allerdings findet die Polizei kurz nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft seine Leiche. Wen wollte er erpressen? Was hat er wirklich gesehen?
Dysfunktionale, gut betuchte Familien, in denen Gewalt an der Tagesordnung ist, korrupte Politiker und Ermittler, die mehr mit sich als mit dem Fall zu tun haben, all dies charakterisiert den zweiten Krimi der Schweizer Autorin.
Allerdings versteht es Seraina Kobler, auch wenn die Handlung nicht übermäßig spannend ist, durch ihre literarische Sprache und ihre atmosphärisch genauen Beschreibungen der Leute, der Handlungsorte, ihres eigenen Umfeldes und das der Polizei die Lesenden zu fesseln.