Charlotte Link: Ohne Schuld, Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Randomhouse, München 2020, 544 Seiten, €24,00, 978-3-7645-0738-1
„…, und Kate war in schwierigen Fällen häufig über intuitive Eingebungen weitergekommen oder hatte sogar den Durchbruch erzielt. Das hatte in ihrem Umfeld eher für Kopfschütteln und einer nur ziemlich widerstrebend bezeugte Anerkennung gesorgt.“
Ohne Schuld geraten in diesem absolut spannenden Krimi Kinder unterschiedlichen Alters ins Visier von Tätern. Sie werden entführt, selbst zu Tätern und zugleich zu Opfern und sie werden getötet. Keine leichte Lektüre, um es gleich vorauszuschicken.
Sergeant Kate Linville hat sich nun endlich von London aus zur North Yorkshire Police versetzen lassen, um endlich mit DCI Caleb Hale zusammenzuarbeiten. Sie kann nicht ahnen, dass dieser erneut suspendiert wird, da sein langjähriger Mitarbeiter, Inspector Robert Stewart, ihn an höchster Stelle gemeldet hat. Erneut ist Hale rückfällig geworden, erneut wissen alle, dass er bereits zum Frühstück harten Alkohol konsumiert. Allerdings ist klar, dass er auch alkoholisiert im aktuellen Fall nicht versagt hat, auch wenn die Presse ihn und seine Mitstreiter in der Luft zerreißen wird.
Trotz Telefonat zwischen Hale und dem völlig überschuldeten und durchgedrehten Familienvater Jayden White konnte der erfahrene Polizist nicht verhindern, dass White seine Frau und seine zwei Kinder tötet.
Nichts ahnend reist Kate Linville nun Richtung York und muss im Zug einer jungen Frau helfen, die Opfer eines Anschlags wird. Ein Mann mit starrem Blick taxiert Xenia Paget im Zug, richtet eine Waffe auf sie und schießt der fliehenden Frau hinterher. Kate eilt zu Hilfe und verschanzt sich mit Xenia in der Zugtoilette.
In Scarborough lebt die allseits beliebte Lehrerin Sophia Lewis. Sie wird Opfer eines perfiden Anschlags und eines Schusses, der auf sie abgegeben wird. Sie überlebt und wird jedoch vom Hals an gelähmt sein.
Die vierundvierzigjährige Kate arbeitet nun an beiden sehr dubiosen Fällen mit ihrem neuen, ziemlich verunsicherten Chef Stewart. Natürlich besucht sie Hale und trifft einen gebrochenen Mann an, der einfach nicht vom Alkohol wegkommt. Zu schwer wiegen all die Erlebnisse, die Hale bisher verkraften musste. Als guter Ermittler findet er für beide Fälle, die offensichtlich keine Schnittstellen aufweisen, obwohl die Schusswaffe des Täters die gleiche ist, mit der auf Xenia und Sophia gezielt wurde, den richtigen Lösungsansatz. Kate weiß, dass Xenia, auch durch die absolut unglückliche Ehe mit Jakob Paget, einem despotischen und kleinkarierten Tyrannen, eingeschüchtert ist. Aber da ist noch etwas, was sie nicht wagt, zu erzählen.
Rückblickend erzählt Oliver Walsh in einem kursiv gehaltenen Text von seiner Ehe mit Alice und beider sehnlichstem Wunsch nach einem Kind.
In der gegenwärtigen Handlung lebt Alice mit Constance Munroe zusammen und behauptet, nie Kinder gehabt zu haben. Hier weiß der Leser bereits, dass sie lügt. Alice ist spurlos verschwunden, obwohl sie wiedermal zu einem Seminar für Lebensberatung aufgebrochen war, aber nie angekommen ist.
Glaubwürdig und psychologisch überzeugend beschreibt Charlotte Link aus der personalen, aber auch Ich – Erzählperspektive ihre äußerst ambivalenten Protagonisten, die Augenzeugen, aber auch Handelnde sind. Sie hält alle Fäden in der Hand und verbindet diese aus der Rückschau mit Empathie mit den tragischen Lebensläufen ihrer Figuren, die einerseits Opfer, andererseits Täter sind. Und diese Haltung, die immer wieder durchschimmert, macht, dass man die Lektüre trotz aller Gräuel mit gespannter Erwartung durchhält.
In einem ungewöhnlich heißen englischen Sommer wechseln sich Polizeiarbeit und lange Gespräche mit Verdächtigen, wie einstigen Gefährten oder Angehörigen mit den Beschreibungen tragischer Lebensgeschichten ab.
Charlotte Link strapaziert den Leser kaum mit gewaltsamen Details, vieles wird einfach nur angedeutet und bleibt der Vorstellungskraft des Lesenden überlassen. Kate Linville wird sich in Gefahr bringen und den Fall, der letztendlich doch nur einer ist, lösen.
Muss sie auch, denn ansonsten gäbe es keinen neuen Krimi.