Mattias Edvardsson: Die Wahrheit, Aus dem Schwedischen von Annika Krummacher, Limes Verlag, München 2023, 448 Seiten, €17,00, 978-3-8090-2758-4
„Ich wollte alles richtig machen und einfach nur helfen. Meiner Mutter. Bill und Sally. Sogar Regina. Wie konnte das alles nur so enden?“
Ein Kriminalroman ohne Ermittler, ohne Polizeiarbeit, ohne Pathologen und doch der Frage:Wer hat das Ehepaar in der Villa getötet? Und wer gibt wem ein Alibi, zumal sich herausstellt, dass sich auch Bill und Jennica kennen. Wer lügt, wer sagt die Wahrheit?
Alles beginnt mit zwei Toten, dem Ehepaar Rytter, dass in ihrem großartigen Haus in Lund gefunden wird. Steven Rytter, der als Kinderarzt arbeitete, starb an einer Medikamentenvergiftung und seine Frau Regina kam durch eine Kopfverletzung zu Tode. Doch was ist in der Villa geschehen und was haben Bill, Karla und Jennica mit alle dem zu tun?
Aus der Sicht dieser drei Menschen beginnt Mattias Edvardsson, die Handlung zehn Wochen vor den Morden aufzurollen. Immer wieder unterbrochen werden die Berichte der drei Protagonisten von Verhörprotokollen und Zeitungsberichten aus der Aftonposten.
Alle Personen, die in diesen Kriminalfall verwickelt sind, wollen Erwartungen anderer, aber auch die eigenen an sich erfüllen, und scheinen doch immer zu scheitern.
Karla Larsson putzt im Haus der Rytters, um sich so ihre Jurastudium verdienen zu können. Da sie im Studentenwohnheim keine ruhige Minute hat, meldet sie sich auf Bill Olssons Annonce und zieht bei ihm als Untermieterin illegal ein. Karla versucht, sich aus der Umklammerung ihrer von Tabletten abhängigen Mutter zu befreien. Seit ihrem zehnten Lebensjahr übernahm sie alle Verantwortung im Haus. Die ständige Ungewissheit, wie es der Mutter geht, und ihre Einsamkeit als Kind, dass alles immer vertuschen muss, hat sie zu einem vorsichtigen und doch empathischen Menschen gemacht. Sie mag Bill, der als Filmwissenschaftler beruflich kaum Geld verdient, und seine achtjährige Tochter Sally. Seit dem Tod seiner Frau Miranda, die das Geld nach Hause gebracht hatte, versinkt er in Schulden und kann sich auch von seiner Spielsucht nicht lösen. Sally soll sich geborgen fühlen und möglichst nicht mitbekommen, dass er seine Arbeit verloren hat und mit sehr wenig Geld auskommen muss. Immer wieder kann er seine Miete und die Stromrechnung nicht zahlen. Er hat Geld von den Schwiegereltern geborgt, Sallys Erbe verpulvert und auch auf der Arbeit gestohlen.
Niemand würde diesen beiden nach außen hin so harmlosen Menschen ernsthaft kriminelle Energien zutrauen und doch werden sie in einen Sog von Problemen hineingezogen, aus dem sie sich nicht mehr befreien können.
Jennica geht auf die dreißig zu und ist sich unsicher, was sie beruflich machen will. Ihre Freundinnen sind bereits mit Mann und Kindern versorgt und die Familie erwartet das auch von Jennica. Als sie Steven Rytter über Tinder kennenlernt, glaubt sie dem Mann ihrer Träume begegnet zu sein. Auch wenn er gute siebzehn Jahre älter ist, beeindruckt er sie mit seinem Auftreten und all dem Luxus, den er zu bieten hat. Die Lesenden wissen allerdings, dass dieser Mann ein Blender ist, denn seine Frau ist nicht tot, wie er behauptet, sie leidet angeblich an den Folgen eines Virus. Regina ist extrem abgemagert und sie nimmt Tabletten, Benzodiazepine, die Steven ihr besorgt hat und die sie in einen Dämmerzustand versetzen. Ist sie nun tablettenabhängig oder behandelt ihr Mann sie absichtlich falsch? Natürlich trennt sich Steven nicht von seiner Frau, weil sie das Geld in die Ehe gebracht hat, und wer will schon sein gutes Leben aufgeben. Steven möchte, dass Karla nicht mit seiner Frau ins Gespräch kommt. Doch diese versucht immer wieder, mit Karla zu reden. Als Bill dann wirklich finanziell absolut an einem Tiefpunkt angekommen ist, stiehlt Karla für ihn einen Ring, den sie unter all dem Schmuck, der Regina gehört, entdeckt hat. Bill veräußert den Ring. Doch dann meldet sich Karlas schlechtes Gewissen. Inzwischen hat Regina den Diebstahl bemerkt.
Die Schlinge um Karlas Hals zieht sich langsam zu, denn sie weiß, sie kann ihren beruflichen Traum, Richterin zu werden, nie verwirklichen, wenn sie angezeigt wird. Und dann begeht ihre ständig klagende Mutter auch noch einen Selbstmordversuch.
Es dauert eine Weile bis Jennica herausfindet, dass Steven sie belogen hat. Er wird auch noch erpresst und scheint zu ahnen, wer dahintersteckt.
Durch die Verhörprotokolle hat man beim Lesen ab und zu einen Wissensvorsprung. Hin- und herschwankend weiß man nie so richtig, wen man trotz Spiel- aber auch Tablettensucht nun sympathisch oder auch unsympathisch finden soll.
Psychologisch geschickt platziert Mattias Edvardsson seine Figuren mit all ihren schmerzhaften Erfahrungen, ihren Stärken und Schwächen. Wie alle drei mit den Geschehnissen klarkommen werden, bleibt dahingestellt, die Wahrheit jedenfalls kommt nicht ans Licht. Nicht für die Polizei.
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Mattias Edvardsson: Die Lüge, Deutsch von Annika Krummacher, Limes Verlag, München 2019, 541 Seiten, €15,00, 978-3-8090-2705-8