Katrine Engberg: Wintersonne, Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg, Diogenes Verlag, Zürich 2022, 431 Seiten, €22,00, 978-3-257-07204-4
„Anette war wütend. Es war ungerecht, sie war beleidigt und enttäuscht, auch wenn es kindisch war. Sie hatten den Fall um das falsche Opfer aufgebaut und kannten noch immer nicht die wahre Identität des Toten.“
Der Kopenhagener Ermittler Jeppe Kørner hat sich im November auf die Insel Bornholm zurückgezogen, um im Wald Bäume zu fällen. Körperliche Arbeit soll helfen, ihn von der gescheiterten Beziehung zur IT-Spezialistin Sara Saidani abzulenken. Wenn man „Das Nest“, den Vorgängerroman, gelesen hat, weiß man um die Probleme zwischen Jeppe und Sara. Hier werden sie nur angedeutet. Auf Bornholm ist auch Jeppes gute Bekannte angekommen, die Autorin Esther de Laurenti. Sie recherchiert für eine Biografie, die sie über die Anthropologin Margarethe Dybris schreiben will. Die Wissenschaftlerin hatte sich mit Esther in Verbindung gesetzt, verstarb jedoch, bevor ein Treffen stattfinden konnte. Nun sitzt Esther im mit Briefen, Büchern und Papieren überfüllten Wohnhaus der Wissenschaftlerin und liest ihre Korrespondenz. Margarethe Dybris‘ Tochter Ida, einst adoptiert, wie auch ihr Bruder Nikolaj, ist Esther behilflich. Nikolaj jetzt um die fünfzig taucht jedoch nie auf, was Ida Sorgen bereitet. Durch die Briefe, die Esther liest, erfährt sie vieles über die beruflichen wie privaten Probleme von Margarethe Dybris. So war Nikolaj schon immer das Kind, das für Ärger sorgte. Doch die Wissenschaftlerin stellte zeitweilig ihren Beruf in den Vordergrund und wollte der Welt beweisen, dass man auch als alleinstehende Frau mit Kindern arbeiten kann.
Derweil entdecken die Polizisten um Anette Werner in Kopenhagen einen äußerst grausigen Fund. Der Körper eines Mannes wurde mit einer Industriesäge in zwei Hälften geteilt und in zwei Koffern an unterschiedlichen Stellen versteckt. Die Leiche ist bereits verwest und somit sind die Ermittlungen äußerst schwierig.
Einem Puzzle gleich setzt nun Anette die wenigen Kenntnisse über die Leiche zusammen und ärgert sich wie immer über ihren faulen Mitarbeiter Falck.
„Die dänische Hierarchie war ebenso flach wie die Topographie des Landes. Es konnte anstrengend sein, eine führende Rolle zu übernehmen, wenn alle meinten, das Recht auf Mitbestimmung zu haben.“
Jeder winzige Hinweis könnte der Ermittlerin helfen. Warum tötet jemand auf so grausige Weise? Ist es Rache? Auch der römische Kaiser Caligula hatte eine Vorliebe für das Zerteilen von Menschen und Zelotes, eine Figur aus der Bibel wird mit dieser Tötungsart in Verbindung gebracht. Die Spur führt über die Koffer nach Bornholm. Gekauft wurden sie vor Jahren von Margarethe Dybris und auf Bornholm gibt es eine Freikirche, die sich Zelotes Kinder nennt.
Anette bittet Jeppe um Mithilfe, bevor sie auf die Insel reist. Jeppe indes versucht Nikolaj aufzuspüren, da sich Ida doch sehr große Sorgen um den Bruder macht.
Alles was Jeppe über den Vermissten, dessen Ruf auf der Insel mehr als schlecht ist, herausfindet, bringt ihn nicht weiter. Esther erfährt jedoch aus den Briefen der Mutter, was Nikolaj als sehr jungen Mann aus der Bahn geworfen hat. Kann es sein, dass er der Mann in den Koffern ist? Denn warum versucht sein alter Kumpel Louis Kofoed ins Haus zu kommen, wo die Polizei nach einer Durchsuchung immerhin vierzigtausend Euro findet.
Als sich dann herausstellt, dass Nikolaj nicht der Tote ist, ist Anette wirklich verzweifelt.
Auch dieses Mal umkreist die Autorin die privaten Leben ihrer Protagonisten. Es geht um die Autorin Esther de Laurenti. Ihr Lebensparter Greger ist vor Kurzem gestorben. Seine drei Kinder sind nicht mal zur Beerdigung gekommen. Auch die damals siebzehnjährige Esther hatte auf Druck der Eltern einst ein Kind zur Adoption freigegeben, ein Schmerz, eine Reue, die sie bis zum heutigen Tag nicht loslässt. Margarethe Dybris, das erkennt Esther bald, wollte sich nicht mit ihr aus beruflichen Gründen treffen.
Wie immer umfasst Katrine Engbergs vielschichtiger Krimi mehrere Handlungsstränge, die wie per Zufall überzeugend aufeinander zulaufen. Erst auf den letzten Seiten ergibt das Puzzle aus Gegenwart und Vergangenheit, aus Rache und Gier, aus Empfindungslosigkeit und Verzweiflung einen Sinn. Jeppe Kørner wird nach Kopenhagen zurückkehren und Anette Werner kann nach dem Abschluss des Falls endlich wieder Zeit mit ihrer Familie verbringen.