Emuna Elon: Das Haus auf dem Wasser, Aus dem Hebräischen von Barbara Linner, Aufbau Verlag, Berlin 2021, 360 Seiten, €24,00, 978-3-351-03841-0
„Er sitzt und schreibt, bemüht sich mit aller Macht, das Unsagbare mit Worten einzufangen, sucht nach den geeigneten Buchstaben, doch er sieht nur Brillen, einen gigantischen Berg aus aufeinandergeworfenen Brillen – Brillen jeder Stärke und jeder Rahmengröße mit Gestellen in allen Farben und Formen …“
Der bekannte israelische Autor Joel Blum hatte es bisher auf Wunsch der geliebten Mutter, die aus den Niederlanden stammte, vermieden, nach Amsterdam zu reisen. Nach ihrem Tod steht Joel nun vor dem Rijksmuseum, dem Van-Gogh-Museum, er sieht die lange Schlange vor dem Anne-Frank-Museum und bewundert diese Stadt mit ihren Menschen, ihrer eigenwilligen Architektur und den Grachten. Er entschließt sich mit seiner Frau recht spät, auch das Jüdische Museum zu besuchen. Als er einen Stummfilm von einer jüdischen Hochzeit sieht, werfen ihn die Bilder völlig aus der Bahn, denn hier tauchen nur ganz kurz seine Mutter mit einem Baby auf dem Arm und ein Mann mit einem Mädchen an der Hand auf. Joel ist sich sicher, dass das seine Familie vor der Ausreise nach Palästina ist. Allerdings ist der Junge auf dem Arm der Mutter ein fremdes Kind. Als er seine Schwester Nellie in Israel anruft, bekommt er keine richtigen Antworten. Gefesselt von diesem Film kehrt Joel Blum allein nach Amsterdam zurück, er mietet sich in einem kleinen Hotel im Zentrum ein und beginnt mit dem Schreiben eines neuen Romans. Immer wieder wird er von Touristen erkannt, und entschließt sich, sein Äußeres zu ändern, um ungestört in den Museen flanieren zu können und seinen Gedanken nachzuhängen.
Geschickt verbindet die Autorin Emuna Elon nun den Aufenthalt des Schriftstellers, der über die Zeit der deutschen Besatzung in Amsterdam recherchiert und Szenen für seinen Roman schreibt, mit Rückblenden und Erinnerungen an die Tage mit seiner Mutter Sonia. Das mögliche reale Leben von Sonia, ihrem Mann Eddy, der als Arzt im jüdischen Krankenhaus arbeitete und den Kindern Nellie und Leo breitet sich vor dem inneren Auge des Lesenden aus. Die Familie Blum wohnt in einer Kellerwohnung. Über ihnen residiert die reiche jüdische Familie de Langer. Eddy ist mit dem Schwiegersohn Martin befreundet. Martins verwöhnte Frau Anouk kommt wegen jeder Kleinigkeit, die ihren empfindlichen Sohn Sebastian betrifft, zu Sonia, die als Krankenschwester gearbeitet hat.
Anouks Vater, Jozef de Lange ein einflussreicher jüdischer Geschäftsmann, liest ihr jeden Wunsch von den Augen.
Joel durchwandert nun Amsterdam, geht in die Synagoge, lernt dort neue Leute kennen und kommt ins Gespräch. So unterhält er sich mit Raphael über dessen Kindheit. Raphael wurde wie 2500 andere Kinder in Amsterdam von einer Untergrundorganisation bei einer christlichen Familie versteckt. Als ihn seine leibliche Mutter nach dem Krieg endlich gefunden hatte, war er extrem verärgert darüber. Er wollte bei seinen für ihn wahren Eltern bleiben. Für Raphael war die Mutter ein Eisklotz. Erst im Laufe seines Lebens hat er verstanden, was seine Mutter auf sich genommen hatte, um ihn endlich wiederzufinden und warum sie, niemand weiß, was sie erlebt hat, ihre Gefühle nicht zeigen konnte.
Immer tiefer verweben sich im Laufe der Zeit die Schicksale von Sonia, Martin und Anouk. Eddy wurde als Erster von der Familie getrennt und musste ins Lager Westerbork.
Seit Urzeiten hatten die Amsterdamer Juden einen gleichberechtigten Status. Erst nach und nach verstehen diese, was mit ihnen geschehen könnte. Von 140 000 holländischen Juden
überlebten 38 000. Doch wie schreibt man über das Grauen? Die Demütigungen? Die Transporte? Die versteckten Kinder? Und was ist mit den Jungen der beiden jüdischen Familien geschehen?
Die israelische Autorin Emuna Elon erzählt auf hohem literarischen Niveau bewegend von Menschen, deren Geschichte genau so hätte verlaufen können. Ihre Figuren sind durchaus ambivalent, interessant sind aber auch Joels Recherchen in Bibliotheken, seine realistischen Schlussfolgerungen und die möglichen Geschehnissen, die seine Schwester Nellie letztendlich bestätigen wird. Nicht umsonst gilt der letzte Gedanke der dementen Mutter in Israel mit auch klaren Momenten, ihrem wahren Sohn Leo.