Nathan Hill: Wellness, Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk van Gunsteren und Stephan Kleiner, Piper Verlag, München 2023, 732 Seiten, €28,00, 978-3-492-07214-4
„Mit anderen Worten: Es sei durchaus möglich, dass die hypoaktive Partnerbindungsstörung nicht auf ein tatsächliches Problem in ihrer Ehe zurückzuführen sei, sondern auf die kognitive Dissonanz zwischen einem statischen Leben und einem nomadischen Geist.“
Zwei Menschen, Jack Baker und Elizabeth Augustine, kommen 1993 nach Chicago, um alles hinter sich zu lassen. Er stammt aus einer Familie in Kansas, fotografiert leidenschaftlich gern und sehnt sich nach einem Leben voller Bildung und Kultur. Sie studiert intensiv und will ihre wohlhabende Familie vergessen, deren Vorfahren ihr Vermögen mit dubiosen Geschäften angehäuft haben. Sie wohnen in einem hippen Viertel und jeder kann dem anderen über eine Gasse in die Fenster schauen.
Diese beiden Menschen wird Nathan Hill in seinem mehr als 700 Seiten starken Roman über verschiedene Zeiten begleiten, er durchleuchtet ihren familiären Hintergrund und ihre Eheprobleme, die im Laufe der Jahre immer mehr zu Tage treten. Aus der innigen Liebe und dem Gefühl einen Seelenverwandten getroffen zu haben, wird im Jahr 2014 ein Unwohlsein, dass beide erfasst. Jack arbeitet als freiberuflicher Lehrbeauftragter, an den immer mehr unentgeltliche Forderungen gestellt werden, an der Universität und Elizabeth hat ihre eigenes Non-Profit Unternehmen namens „Wellness“. Beider Sohn Toby neigt zu hysterischen Wutausbrüchen, insbesondere wenn er nicht Minecraft spielen darf und die Mutter ihn drängt, doch endlich mal mit anderen Kindern zu spielen. Elizabeth behandelt alles, ob privat oder beruflich, mit einer wissenschaftlichen Akribie. Wenn sie ein Problem hat, z.B. mit ihrem störrischen Sohn, der nur Käsemakkaroni isst und alles andere verweigert, dann liest sie Studien und Forschungsergebnisse ohne Ende. Sie umkreist alles von allen Seiten, um alles richtig zu machen. Offenbar scheint sie nie auf ihre eigenen Instinkte zu vertrauen, geht nie einem Gefühl nach. So auch beim Kauf ihrer ersten Eigentumswohnung, die sie sich nur leisten können, weil Elizabeth durch einen potenten Arbeitgeber einen moralisch nicht ganz einwandfreien Auftrag erledigen konnte, der ihr ein finanzielles Polster sicherte. Auch wenn Jack und Elizabeth gern zu den angesagten Leuten zählen würden, diejenigen, die sich Eigentumswohnungen in Chicago leisten können, spielen in einer ganz anderen Liga. Doch dieser Kauf, so erscheint es Jack, spiegelt Elizabeths Hoffnung auf Veränderungen in beider Ehe, die er so gar nicht nachvollziehen kann. Auch Elizabeths Unternehmensschwerpunkte haben sich über die Jahre hinweg gewandelt, so widmete sie sich einst der Entlarvung von Diäten und anderen Gesundheitsbetrügereien, so gaukelt sie jetzt Menschen durch den Einsatz von Placebos ein glücklicheres Leben vor. Höhepunkt dieser Scharade ist ein gefälschter Liebestrank, der angeblich gestörte Ehen retten soll.
Alle Figuren, auch im Umfeld von Jack und Elizabeth, kämpfen mit zeitgenössischem Gruppendenken, Informationsüberflutung, den angesagten Modetrends, ob es nun Ernährung, Wohnungseinrichtungen oder neue Beziehungsenergien betrifft. Immerhin lernt Elizabeth Kate kennen, eine sehr junge Frau, die mit ihrem Mann in einer polyamorphen Beziehung lebt. Als sie sich mit Jack, der keine Ahnung hat, mit diesem Ehepaar trifft, brechen alle auch sexuellen Probleme des Paares auf. Zeitweilig liest sich dies, wie eine Parodie auf die Gesellschaft, die überfüllt mit Angeboten, einfach nicht mehr weiß, wie sie glücklich leben könnte und Figuren, die sich auf ihr „höheres Ich“ oder einen „positiven Energieabfluss“ berufen und keiner so richtig weiß, was das eigentlich soll.
Ausufernd und zum Teil auch ermüdend umkreist Nathan Hill seine Figuren, um deren Entwicklung mal mehr mal weniger ernsthaft zu zeigen. Aus dem Rückblick wird auch klar, dass Elizabeth, um sich den richtigen Mann zu schnappen, auf einen Fragekatalog berufen hat, den der damalige Inhaber von „Wellness“ entwickelt hat. Doch was ist Liebe, worauf beruht die menschliche Gesellschaft und deren Beziehungen, wie sicher sind wissenschaftliche Studien, nach denen ich ein Kind erziehen kann, damit es stabil ins Leben startet, was heißt Glaube und kann ein Placebo, also eine Zuckerpille, eine Ehe retten?
Wer sich in diesen Roman vertieft, kann an den Macken und den seltsamen Vorstellungen der Figuren verzweifeln und sich doch fragen, was hält eine gute Ehe zusammen und ist das Durchbrechen von Routinen nicht doch heilsam, wenn beide Partner sich einfach mal einlassen.
„Und vielleicht war Liebe immer so, bloß ein Placebo, und jede Hochzeit war ein Teil der aufwendigen Verzierung des Placebos, sein therapeutischer Kontext.“