Kate Morton: Heimwärts, Aus dem Englischen von Stefanie Fahrner und Judith Schwaab, Heyne Verlag, München 2023, 688 Seiten, €25,00, 978-3-453-27425-9
„Dass ihre Großmutter sich in Halkyon aufgehalten hatte, als man die Leichen von Isabel Turner und ihren Kindern am Ufer des Baches gefunden hatte, erschien ihr beklemmend – noch beklemmender aber fand sie, dass Nora damals mit Polly schwanger gewesen war.“
Als Percy Summers, der ein kleines Kolonialwarengeschäft mit seiner Frau Meg führt, in der Hitze von Tambillas Heiligabend 1959 zur Familie Turner unterwegs ist, hätte er nicht ahnen können, was ihn erwartet. Vom Haus entfernt auf einer schattigen Decke liegen Isabel Turner und ihre drei Kinder, als würden sie schlafen. Im Polizeibericht wird später stehen, dass die Todesursache ein erweiterter Suizid mit einer giftigen Substanz sei. War Isabel Turner wirklich nach der Geburt ihres vierten Kindes so depressiv? Ihr Ehemann Thomas Turner hielt sich zu diesem Zeitpunkt in England auf und wird auch nie wieder nach Australien zurückkehren. Dass sein viertes Kind, Baby Thea, das aus der Hängetasche, die am Baum befestigt war, spurlos verschwand, hielt noch lange Zeit die Polizei und ihre Helfer auf Trab. Zwanzig Jahre später wird man die Überreste des Leichnams in einem Beet finden. Zur gleichen Zeit besuchte die hochschwangere Schwägerin Nora die Familie Turner. Durch den Schock und die Todesnachrichten kam sie zu früh nieder und gebar Polly.
Einen langen Zeitraum umfasst dieser atmosphärisch pralle Roman von Kate Morton und pendelt immer wieder zwischen den unfassbaren Ereignissen von 1959 und den Geschehnissen im Dezember 2018.
Jess Turner – Bridges, die Tochter von Polly, wird darüber informiert, dass ihre hochbetagte Großmutter Nora in Darling House von der Treppe gestürzt ist. Dabei hat sie nie den Dachboden aufgesucht. Noras Enkelin lebt seit zwanzig Jahren mal mehr mal weniger erfolgreich als Journalistin in London. Sofort packt Jess ihre Koffer und reist nach Australien. Aufgewachsen ist die nun Vierzigjährige nicht bei ihrer Mutter, sondern bei Nora, die sie mit all ihrer Liebe und Zuneigung überschüttet hat. Früh geschieden hat sich Nora um die Restaurierung alter Häuser gekümmert und um ihre Tochter Polly und später um Jess. Noras gesundheitlicher Zustand ist bedenklich, zumal sie in Jess‘ Beisein von vielem redet, was die Enkelin nicht besteht. Erst durch Mrs. Robinson, die langjährige Vertraute und Haushälterin von Nora, erfährt Jess von den Ereignissen im Jahre 1959. Außerdem findet sie in Noras Haus ein Buch mit dem Titel „Als würden sie schlafen“ des Journalisten Daniel Miller. In mehreren Fassungen berichtet er authentisch und mit Aussagen von Zeitzeugen über die unfassbaren Morde, die niemand wahrhaben will.
Kate Morton übernimmt dieses Buch als Roman im Roman und nähert sich von vielen unterschiedlichen Seiten dem tragischen Schicksal der Familie Turner. Nach und nach wird klar, dass es sich vielleicht nicht um einen Suizid handeln könnte. Und natürlich fragt man sich, warum Nora und ihrer Tochter Polly so ein schlechtes Verhältnis haben. Was hat Nora, die durch ein Anwaltsschreiben so verunsichert wurde, auf dem Dachboden gesucht? Und welche Rolle spielt sie in dieser so furchtbaren Familientragödie?
Ausufernd – dabei nicht chronologisch – erzählt und immer konzentriert auf die Fauna und Flora Australiens schraubt sich Kate Morton für Lesende, die wirklich die Ausdauer haben, mit jedem Kapitel tief in die Geschichte der Familie Turner hinein und in die so komplizierten Beziehungen zwischen Nora, Polly und Jess. Nebenschauplätze fließen ein, so auch nach Recherchen von Jess die Lebensgeschichte von Thomas Turner, der sich mit seiner Umsiedlung von Großbritannien nach Australien und seiner Rinderzucht nicht nur Freunde gemacht hat. Immer mehr Geheimnisse treten zu Tage, Nebenfiguren gewinnen plötzlich an Bedeutung und immer mehr wird klar, dass sich Isabel Turner von ihrem Mann trennen wollte. Doch nicht der Suizid sollte die Ehe beenden. Nicht die Polizeiarbeit steht im Vordergrund, sondern der Umgang aller Beteiligten vor Ort mit dem so tragischen Ereignis, dass bis in die Gegenwart hinein die Lebenswege von Menschen bestimmen wird.