Max Annas: Morduntersuchungskommission. Der Fall Melchior Nikoleit, Rowohlt Verlag / Hundert Augen, Hamburg 2020, 334 Seiten, €20,00, 978-3-498-00133-9
„Und sowieso war die Idee, dass ein Vater den eigenen Sohn tötete, natürlich ungewöhnlich. Umgekehrt hatte man das öfter. Und gerade wenn der Sohn sich mit solchen Leuten eingelassen hatte wie diesen Punkern. Es gab immer mehr von solchen Leuten hier in Jena, die sich keinen Gefallen taten damit, so herumzulaufen wie die. Das mussten die doch irgendwann einsehen.“
In Max Annas fünftem Krimi „Morduntersuchungskommission“ führt der nicht aus der DDR stammende Autor seine ermittelnden Polizisten ein: Oberleutnant Otto Castorp von der MUK und seine Kollegen, Heinz, Otto, Rolf und Konni. Sie operieren vom Thüringer Polizeipräsidium Gera aus.
Der neue Fall umkreist im Jahre 1985 die Punkerszene in Jena. Otto Castorp und seine Kollegen können nicht nachvollziehen, warum junge Leute sich derart verunstalten, ihre Klamotten zerreißen, die Haare so seltsam stylen, keinen Wert auf streng gezogene Scheitel legen und diese kaum rhythmische Musik produzieren. Als dann der neunzehnjährige Punk Melchior Nikoleit erschlagen aufgefunden wird, beginnt die übliche Ermittlungsarbeit, in die Castorp bei Gelegenheit auch seinen Bruder Bruno vom Ministerium für Staatssicherheit einbezieht. Bruno wird sich bei der Beerdigung des Vaters sinnlos besaufen. Seltsam nüchtern beschreibt Max Annas die Familienverhältnisse. Ottos Mutter funktioniert einfach weiter, Castorp spricht kaum mit seiner Frau Birgit, auch wenn diese immer später nach Hause kommt und er so einiges vermutet. Die Kinder Kathrin, Mike und Ruth laufen einfach so nebenher und wenn es sein muss, gibt man sie einfach bei der Oma ab.
Es fließt allzu viel Wodka, obwohl in der DDR auch gern Nordhäuser Doppelkorn konsumiert wurde.
Jeweils aus den Perspektiven von Otto Castorp, von Julia Frühauf, sie gehörte zur Band von Nikoleit und Erich Marder, Major und Vater von Biber, ebenfalls Bandmitglied, umkreist Max Annas den Fall.
Ins Visier der Ermittler gerät schnell der Vater von Melchior. Michael Nikoleit arbeitet als Antiquitätenhändler, der seine edlen Waren per Sondergenehmigung im Westen verscherbeln kann und die Devisen bei Vater Staat abgeben muss. Durch einen Unfall hat die Familie bereits ein Kind verloren. Melchior hatte zum Vater nicht die beste Beziehung. Julia berichtet, dass der erwachsene Mann regelmäßig vom Vater verprügelt wurde. Melchior und sie waren ein Liebespaar, ihr hat er auch gebeichtet, dass er gezwungen wurde, als IM der Stasi unter dem Namen „Gosse“ zu spitzeln. Natürlich interessiert sich die Staatsmacht für die Punkerszene, die „Feinde des Systems“, aber auch die Junge Gemeinde. Julias Vater ist Pfarrer. Seltsam ist, dass Julia zu Verhören abgeholt wird und als Minderjährige ohne Eltern befragt werden durfte.
Vieles rumort vier Jahre vor der Wende und vieles, was Otto Castorps Kollegen so über die DDR äußern, wirkt eher lächerlich als ernsthaft. Das mag am Rückblick auf diese Zeit liegen, an den abgedroschenen Phrasen, an die zu diesem Zeitpunkt niemand mehr geglaubt hat, der nicht so eng ans System gebunden war. Wie willkürlich die herrschenden Machtorgane ihre Druckmitteln einsetzen konnten, das wussten viele. Die irrige Annahme, das alles Böse vom Westen herüberschwappt, erinnert an aktuelle Diktatorensysteme.
Zu denen, die dies glauben, gehört Erich Marder. Der Major hadert mit einem Foto, dass ihm, der Leser weiß von wem, gestohlen wurde. Auf dem Foto posieren am Ende des II. Weltkrieges Soldaten, unter ihnen Marder, vor zwei toten englischen Offizieren.
Otto Castorp wird wiedermal seinen Bruder Bruno anzapfen und er wird die Schwachstelle finden, die die Polizei bei ihrer Arbeit einfach übersehen hat.
Es geht um die oftmals schwierigen Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen, zum einen die zwischen Michael und Melchior Nikoleit, aber auch Major Marder und Sohn, aber auch die zwischen Vater Staat und seine ungehorsamen Punker, die einfach nicht geduldet werden können. Niemals genügen die Söhne den Vätern. Gewalt gegen Menschen, die Probleme bereiten und nicht stromlinienförmig funktionieren, hat die Staatsmacht hinter verschlossenen Türen gern ausgeübt. Erneut davon zu lesen, betrübt im Nachhinein. Zumal aus Julias Blickwinkel klar wird, wie harmlos die unpolitischen Punker als Dilettanten versucht haben, Musik zu machen.