Delphine de Vigan: Die Kinder sind Könige, Aus dem Französischen von Doris Heinemann, DuMont Buchverlag, Köln 2021, 318 Seiten, €23,00, 978-3-8321-8188-8
Mélanie ist seit Kindheitstagen vom Reality-TV besessen. Nichts scheint auf sie so eine magische Anziehungskraft auszuüben, wie die Möglichkeit als „Normalsterbliche“ diese fünfzehn Minuten Berühmtheit zu genießen. Ihre eigene, sehr kurze Karriere in diesem Format erlebt die eigentlich schüchterne und zurückhaltende Sechsundzwanzigjährige durch ihre Aussage beim Casting, dass sie noch Jungfrau ist. Parallel zu Mélanie erzählt Delphine de Vigan von Clara Roussel, die zielgerichtet und ehrgeizig als extrem kleine Frau ihre Karriere bei der Polizei in Angriff nimmt.
Mélanies Sucht nach Aufmerksamkeit kann sie endlich ausleben, als sie mit Bruno Claux einen Mann findet, der sie in allem unterstützt. Als junge Mutter spürt sie eine innere Leere. Sie kann sich nicht mit den anderen jungen Müttern auf dem Spielplatz unterhalten. Als sie die ersten Videos von Kindern bei Youtube sieht, endet für ihre eigenen Kinder Sammy und Kimmy die Kindheit. Überhäuft von Markenklamotten, Spielzeugen, Plüschtieren und Puppen inszenieren die Kinder von Mélanie vor der Kamera ein Leben wie im Paradies. Ein Video nach dem anderen muss erdacht und produziert werden, denn Mélanie hat diverse Verträge mit Firmen abgeschlossen. Die Kinder öffnen ständig Päckchen und aus dem Off erklingt die gekünstelte immer gut gelaunte Stimme der Mutter.
Kimmy hat mit ihren sechs Jahren immer weniger Lust auf die peinliche Zurschaustellung und die Wochenenden in Freizeitparks, was eher Arbeit als Spaß bedeutet. Als Sammy und Kimmy mit den Kindern im Hof spielen, ist das Mädchen von einer Sekunde zur nächsten verschwunden.
„Sie war aus der von Markenzeichen und Symbolen gesättigten Welt, in der sie aufgewachsen war, verschwunden, als hätte eine unsichtbare Hand plötzlich beschlossen, sie den Blicken zu entziehen.“
Clara Roussel übernimmt mit ihrem Team die Ermittlungen, denn die Vermutung besteht, dass Lösegeld für Kimmy gefordert wird, immerhin hat Mélanie fünf Millionen Follower auf ihrem Youtube-Kanal und somit ein hohes Jahreseinkommen. Clara, die eine genaue Rechercheurin ist, sieht alle Youtube-Videos mit den Kindern und erkennt den immensen Missbrauch, den die konfliktscheue Mélanie in ihrer „Heile-Welt“– Blase ihren Kindern antut. Sie will die „Super maman“ sein und die Liebe ihrer Fans gewinnen. Was diese auch gestellten Szenen nach außen hin für Kimmy und den immer fügsamen Sammy bedeuten, fragen sich weder Mutter noch Vater.
„Ihre Familie war ein Werk, eine Leistung, und ihre Kinder eine Verlängerung ihrer selbst. …
Inzwischen jedoch waren die Likes, die Herzchen, der virtuelle Applaus zu ihrem Motor, zu ihrem Lebenswerk geworden: so etwas wie die Rendite einer emotionalen und effektiven Investition, auf die sie nicht verzichten konnte.“
Kimmys Entführer melden sich und schnell wird klar, dass das Kind in keinem Pädophilenring
gelandet ist und zum Glück, niemand dem Kind etwas antun wird. Eine unscheinbare Frau namens Élise Favart, einst mit Mélanie befreundet, hat Kimmy einfach mitgenommen und dem Kind ein paar Tage freie Zeit zum Spielen ermöglicht. Sie hat in den Videos gesehen, dass Kimmy unglücklich ist. Als sie sich bei der Polizei mit Kimmy stellt, nachdem sie eine halbe Millionen Euro für eine Kinderhilfsorganisation gefordert hat, die die Eltern von Kimmy später wieder zurückfordern werden, ist die Erleichterung groß.
Sicherlich geht es in diesem Roman nicht um den Kriminalfall, sondern eher um die Ausbeutung von Kinder-Influencern durch ihre Eltern in einer digitalen Welt.
Reizvoll ist der Ausblick der Autorin auf das Jahr 2031. Mélanie hat ein neues, schönes Haus und sie filmt für ihre Fans ihr Leben vom Aufstehen bis zum ins Bett gehen. Niemand weiß, dass sie zu ihren Kindern keinen Kontakt mehr hat.
„Mélanie träumt von einer Welt, in der jeder seine Träume wahrmachen, seine Vorlieben und seinen Optimismus zum Ausdruck bringen könnte, ohne gleich das Ziel von Kritik und Spott zu werden. Und manchmal fragt sie sich, ob es nicht an ihr sei, diese Welt zu erschaffen.“
Leicht Größenwahnsinnig begreift sich Mélanie in ihrer Blase als jemand, der in den Fluten der Werbung auch noch über ein Meinungsbildungspotential verfüge. Eine Frau ohne soziale Kontakte, Bildung oder einen Funken Feingefühl für die Empfindungen ihrer eigenen Kinder glaubt, dass sie ihren Fans Ratschläge geben kann. Und wer sind diese Leute überhaupt, die sich an einem fremden, völlig inhaltslosen Leben festsaugen?
Sammy kann seine Wohnung nicht mehr verlassen, denn er glaubt, wie einst Truman im Film „Die Truman-Show“ von Peter Weir ständig gefilmt zu werden. Kimmy jedoch ist an ihrer Kindheit nicht zerbrochen, sie wird ihre Eltern verklagen und das ist ein wunderbarer Lichtblick in den Abgrund der Schattenseiten der digitalen Welt.