Marijke Schermer: Sozusagen Liebe, Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers, Kampa Verlag, Zürich 2021, 237 Seiten, €22,00, 978-3-311-10063-8
„Was, wenn sie nicht gegangen wäre, was, wenn Lucas nicht gewesen wäre, was, wenn David weniger fad wäre, weniger ängstlich, was, wenn sie ihn nie kennengelernt hätte, was, wenn sie früher in ihrem Leben die Kraft von Sex entdeckt hätte? Was, wenn das Leben auf einer Verkettung von Zufälligkeiten beruht, was, wenn es das jetzt gewesen ist, was wenn sie zurück will und alles kaputt ist?“
Terri dreht sich im Kreis, wenn sie an die letzten Wochen und Monate denkt. Nach fünfundzwanzig Jahren möchte sie ihre Ehe mit David beenden. Der Gedanke spukt bereits seit zwei Jahren in ihrem Kopf. Doch beide haben zwei Töchter, gute bezahlte Jobs und ein Neubau-Reihenhaus am Stadtrand, das noch nicht abgezahlt ist. Terri glaubt, dass ihre Ehe festgefahren ist, nichts bewegt sich. Sie ist unzufrieden mit Davids Zufriedenheit, seiner Art, sich nach dem Essen aufs Sofa zu legen, sie projiziert ihre Wünsche auf die Mädchen, hat hohe Erwartungen an die Kinder, an die fünfzehnjährige Tochter Krista, an die jüngere Ally. Doch die Kinder haben nur mittelmäßige Leistungen und reagieren auf ihre ruppigen Kommandos nur noch patzig, besonders Krista. Seit Terri nun mit dem eigenwilligen wie freiheitsliebenden Lucas ein Verhältnis hat, entschließt sie sich zur Trennung.
Multiperspektivisch erzählt die niederländische Autorin Marijke Schermer aus den Blickwinkeln von David, Terri, Ally, Krista, Lucas und Sev. Mit Sev hat David eine eher sexuell geprägte Beziehung angefangen. Sev hat kein Interesse an einer festen Bindung. Sie ist mit sich und ihrem achtjährigen Sohn Hendrik glücklich.
Wie sehr verändert man sich in einer langjährigen Ehe? Sev staunt nicht schlecht, als David ihr seine Gedanken dazu mitteilt. David ist der Meinung, dass aus der Zweierkonstellation langsam ein „Wir“ wird und wenn die Kinder dazukommen, ein „vielköpfiger Organismus“.
„Er und sie lösten sich auf, wie Wellen im Meer. Deswegen hat er jetzt nicht mehr die geringste Ahnung, wer er ist, weiß nur, wo er ist: hier, in seinem Haus.“
Zeitversetzt verfolgen die Lesenden nun die typischen Phasen der Trennung. Schwierig erweist sich, die Beziehung von Terri zu den Töchtern, die sich auf die Seite des Vaters stellen und auch das Gefühl haben, dass Terri, die unheimlich schlecht aber gesund kocht, sie eigentlich loswerden will, um ein besseres, anderes Leben zu führen. Für Krista ist die Mutter die Schuldige, und als sie auch noch die Chatnachrichten zwischen ihrer Mutter und Lucas liest, die sich um deren Sexualleben drehen, steigert sich der Hass. Selbst tief in der Pubertät beginnt sie, sich für Jungen zu interessieren, insbesondere für den muslimischen Jungen Rafik. Ally wird von den Jungen im Sportunterricht gemobbt, weil sie noch keine Brüste hat. Doch mit wem können die Kinder reden, wenn die Erwachsenen nur mit ihren eigenen Beziehungen und Streitereien beschäftigt sind?
David ist sich keiner Schuld bewusst, kann nicht verstehen, dass Terri ihre Ehe mit Stillstand gleichsetzt. Noch versuchen David und Terri, den Kindern ihr Zuhause zu erhalten.
Auf neuen Pfaden wandelnd, Terri mit Lucas und David mit Sev, gelangen alle jedoch kaum zu neuen Erkenntnissen. Sev und Lucas haben nicht Absicht, sich mit den Problemen ihrer Sexualpartner zu beschäftigen.
Wie soll man leben? Was hält eine Ehe lebendig? Wohin geht die Reise, wenn das eingefahrene Lebensmodell ausgedient hat?
Marijke Schermer entwickelt ein spannungsreiche Psychogramm und schreibt exzellent gute Dialoge, sie ist präzise und eine aufmerksame Beobachterin ihrer Zeit. Sie öffnet ein Fenster in die Lebenswelt der Generation um die Mitte Vierzig, die sich mit Kindern gut eingerichtet hat und doch fliehen möchte. Nur wohin? Wo ist das zu erwartende Glück? Und wo bleibt die Verantwortung für die Kinder?