Katherine Webb: Besuch aus ferner Zeit, Aus dem Englischen von Babette Schröder, Diana Verlag, München 2021, 551 Seiten, €20,00, 978-3-453-29249-9
„Bethia spürte es, auch wenn sie sich einzureden versuchte, dass die Frau verrückt war und kaum sprechen konnte und dass niemand auch nur im Entferntesten ahnte, dass sie sich von früher kannten. Aus einem anderen Leben. Sie wüsste nicht, dass noch jemand lebte, der sie damals beide gekannt hatte. Niemand außer ihr und Louisa wusste, was zwischen ihnen vorgefallen war, darum brauchte Bethia keine Angst zu haben. Doch sie hatte Angst, und dafür hasste sie die Frau.“
Olivia Molyneaux, kurz Liv genannt, hat sich in der Wohnung ihres verschwundenen Vaters Martin, in der Chrismas Steps in Bristol einquartiert. Nach einer kurzen Beziehung ist Liv schwanger geworden, aber ihr Baby hat nicht lang gelebt. Traumatisiert und allein sorgt sich Liv nun um den Vater, der psychisch krank ist. Da seine Papiere und das iPhone auf einer Brücke gefunden wurden, geht die Polizei von Selbstmord aus. Doch Liv kann sich damit nicht abfinden. Als ein Obdachloser namens Adam Freemann vor der Tür steht und Einlass begehrt, mischen sich in Livs Träume von Babygewimmer und Stimmen auch noch Bilder von einer älteren Frau. Adam glaubt, dass Martins Wohnung ein Café sei, und immer wieder fordert er offenbar verwirrt, dass Liv eine gewisse Polly oder Cleo holen solle.
Bristol 1831: Die fünfundsechzigjährige Bethia Shiercliffe kümmert sich als höhergestellte Dame um die Belange der Armen. Schon lang kursieren Gerüchte um eine stumme Obdachlose, die seit zweiundzwanzig Jahren in einem Heuhaufen lebt. Louisa ist das neue Projekt der scheinheiligen und ziemlich intriganten Bethia, die ihre eigene ärmliche Herkunft und die gefühlsarme Mutter Mary nie vergessen hat. Mary vergönnt jedoch ihrer Tochter Bethia durch ihre eigene vorteilhafte Heirat gesellschaftliche Anerkennung und Aufstieg. Das Armenhaus, das sich in der Straße von Martins Wohnung einst befand, nimmt Louisa auf. Nachdem jedoch die leicht verwirrte Frau gewaschen ist und Bethia versucht, ihr das Geheimnis ihrer vielleicht königlichen Herkunft zu entlocken, stellt diese fest, dass sie Louise aus einem anderen Leben kennt. Louisa und das Auftauchen eines gewissen schwarzen, ehemaligen Sklaven namens Balthazar Freemann könnte Bethias Stellung in der Gesellschaft gefährden und vielleicht sogar vernichten.
Um zu erklären, wer Louisa, die eigentlich Ellen Thorne heißt, schlägt die Autorin Katherine Webb zeitlich ein neues Kapitel auf und erzählt vom Jahr 1791. Da gab es ein Café, dass die Tante von Ellen betrieben hat und dort arbeiteten auch zwei Frauen, die Polly und Cleo hießen.
Am Ende führt Katherine Webb alle Fäden zusammen und doch bleibt einiges im Ungewissen.
Katherine Webb erzählt im Wechsel der Zeitebenen von Menschen, deren Lebenswege sich gekreuzt haben und sich aus verschiedensten auch tragischen Gründen wieder trennten.
Süffig ist der Stil der englischen Vielschreiberin, ausufernd die Beschreibungen der Figuren und ihrer Lebensumstände bis ins Detail. Nicht umsonst wird behauptet, dass ihre Geschichten süchtig machen, allerdings der Leserin wenig Freiraum lassen für eigene Interpretationen.
Dramaturgisch geschickt baut Katherine Webb in ihre Handlung ständige Cliffhanger ein, um den Leser zu ködern, denn natürlich will er wissen, warum bestimmte Figuren so und nicht anders handeln und in welchen Konstellationen sie letztendlich zueinander stehen. Außerdem, und das muss man ihr zugute halten, gelingt es der Autorin geschickt, Geschehenes in Vergangenheit und Gegenwart genial zu verknüpfen.