Julia Woolf: Marigolds Töchter, Aus dem Englischen von Sabine Schilasky, List Verlag, Berlin 2020, 427 Seiten, €20,00, 978-3-471-36030-9
„Altern war keine Krankheit, es war einfach so, wie es war.“
Das Leben von Marigold, die jetzt sechsundsechzig Jahre alt ist, läuft in gewohnten Bahnen. Sie hat einen Mann, der sie immer noch liebt und gern mit ihr zusammen ist, ihre Tochter Suze, die mit ihren fünfundzwanzig Jahren beruflich zwischen Journalistin und Influencerin schwankt und Nan, ihre sechsundachtzigjährige Mutter, die an allem etwas zu meckern hat.
Als dann jedoch ihre ältere Tochter Daisy aus Italien ins kleine Küstendorf und Elterncottage zurückkehrt, wird es etwas eng. Marigold arbeitet in ihrem Dorfladen und hört den Tratsch der Nachbarn. Sie kennt alle Leute aus dem Ort und nichts Menschliches ist ihr fremd. Als sie jedoch bemerkt, dass in ihrem Kopf bildlich gesehen immer größere Risse und Löcher entstehen und sie ständig Dingen vergisst, was ihr früher nie passiert wäre, sucht sie einen Arzt auf.
Dieser beruhigt sie und schiebt alles aufs Alter. Dass er in seiner Diagnose allerdings falsch liegt, kann Marigold nach mehreren Aussetzern und Pannen vor sich und ihrer Familie nicht mehr verheimlichen oder schönreden.
Inzwischen hat sich Daisy nach einer beruflichen Neuorientierung bei Lady Sherwood in der Scheuen einquartiert. Hier kann sie am Tag die Tiere ihrer Mitmenschen zeichnen und hat, ohne es zu ahnen, eine wirklich gut Geschäftsidee entwickelt. Die Aufträge nehmen kein Ende und Daisy wird für Lady Sherwood unentbehrlich durch die Tatsache, dass sie von einer Sekunde zur nächsten ihren Mann verliert. Lady Sherwoods Sohn Taran lebt in Kanada und kann sich auch nach der Testamentseröffnung und als Erbe zu keiner Rückkehr entschließen.
Daisy und er kennen sich noch aus Kindertagen.
Doch wenn Taran verkaufen sollte, dann steht zu befürchten, dass Marigolds ruhige Umgebung einer Baustelle weichen wird.
Außerdem würde sie einen Umzug nicht verkraften und Nan sowieso nicht.
Viele innerfamiliäre Konflikte werden angerissen. Suze muss sich nun ein Zimmer mit der Schwester teilen und sie muss erkennen, dass sie nicht wie früher alles auf ihre Mutter abwälzen kann. Marigold braucht Hilfe, wenn sie in ihrer gewohnten Umgebung bleibt.
Eine schwere familiäre Krise bahnt sich an, zumal Suze heiraten will und Daisy sich offenbar in Taran verliebt hat.
Julia Woolf erzählt vom Umgang mit der Altersdemenz, die von Person zu Person sehr unterschiedlich sein kann. Marigold, die Frau, die sich immer um alles und jeden gekümmert hat, versinkt nun in die Dunkelheit des tragischen Vergessens. Doch wie reagiert ihre Umgebung? Mit Verdrängung, mit Gleichgültigkeit oder gar Empörung? Sicher nicht, und doch bleibt die Skepsis, die Hoffnung, es sei nur temporär, vielleicht doch nur das Alter.
Die in einfacher, dialogischer Sprache geschriebene Geschichte berührt, denn niemand hat Schuld an der Veränderung einer Persönlichkeit, wenn die Demenz sich langsam einstellt.
Allerdings verfällt die Autorin nicht in eine melancholische Stimmung, sondern reflektiert das Geschehene beinahe nüchtern, eingebunden in den Alltag der Familie mit noch jungen Töchtern, die nun an der Seite der Mutter Verantwortung übernehmen müssen.