Cay Rademacher: Stille Nacht in der Provence, Dumont Buchverlag, Köln 2020, 253 Seiten, €18,00, 978-3-8321-8139-0
„Das einzige Problem – und auch die Ursache für seine Schlaflosigkeit – war die verschwundene Leiche. Er konnte sie weder vergessen, noch sich selbst zu hundert Prozent überzeugen, dass er sich das bloß eingebildet hatte. Er wusste, dass er dieses Rätsel lösen musste, wenn nötig, auch allein.“
Es soll eine wunderbares Weihnachtsfest in der Provence werden, das zumindest hofft Andreas Kantor, als er sich die Schlüssel zum Ferienhaus in Miramas-le-Vieux von seinem charismatischen Lehrerkollegen aushändigen lässt. Eine Woche umsonst in einer mittelalterlich angehauchten Touristengegend, die in den Wintertagen fast ausgestorben ist. Ruhe, Gespräche vor dem Kamin, einfach mal ausspannen. Doch Andreas Frau Nikola tob, als er ihr von seinen Plänen erzählt. Sie ist sauer, weil ihr Ehemann sie wiedermal nicht fragt. Dabei hat er sich und ihr doch diese teuren iPhones gekauft. Auch der neue Tesla vor der Tür gehört zu den Überraschungen, die sich Andreas einfach mal gönnt. Nikola befindet sich mit ihren fünfzig Jahren an einem Scheidepunkt in ihrem beruflichen und vielleicht auch privaten Leben. Tochter Chiara ist aus dem Haus und studiert in Cambridge Mathematik. Das kostet trotz Stipendium eine Stange Geld. Die Kantors sind zwar durch Andreas‘ gutes Lehrergehalt abgesichert, aber Nikola hat ihren festen Job bei einer bekannten Hamburger Frauenzeitschrift verloren. Ihr wurde gekündigt, eine jüngere Frau übernimmt nun den Posten. Andreas hingegen hatte auf ein Sabbatjahr gehofft, denn er steht mit immer weniger Interesse am Unterrichten vor seinen Gymnasiasten. Durch Nikolas Kündigung ist das nicht mehr möglich. Ständige Vorwürfe gegenseitig, heftige Auseinandersetzungen mit Türen knallen und allem Drum und Dran hat die Beziehung der Kantors an einen Tiefpunkt gebracht und so hat Tochter Chiara auch kaum Lust auf ein Weihnachtsfest in trauter Familie und Einsamkeit.
Fast stumm reisen die Kantors nun in die Provence, in der es, oh Wunder, ohne Ende schneien wird.
Im rustikalen Ferienhaus angekommen, bietet sich den Kantors ein malerischer Anblick, denn der kleine fast ausgestorbene Ort hat seinen Reiz. Schnell lernen die beiden Touristen Valéria Lozach und ihren geschwätzigen Neffen Dennis kennen. Sie betreibt das einzige offene Restaurant und er bedrängt die Fremden mit seinen Kenntnissen als Heimatforscher. Und dann ist da noch Miléne Tangny und ihr ruppiger älterer Mann René. Sie hat ein Geschäft, in dem sie ihre selbst geformten Santons verkauft, weihnachtliche, provenzalische Krippenfiguren. Andreas rümpft eher die Nase über diesen Kitsch.
Doch dann geschieht das Unvermeidbare. Nikola ist zum Einkaufen unterwegs, als Andreas durch einen Knall aus dem Haus gelockt wird. Die Schneemassen haben die Felsbrocken unmittelbar am Haus bewegt und ein unterirdisches Gewölbe freigelegt. Hier entdeckt Andreas zu seinem Entsetzen einen Sarg mit einer mumifizierten Leiche. Als er völlig hysterisch Miléne zu Hilfe holt, ist der Sarg plötzlich verschwunden. Spuren im Schnee sind kaum zu erkennen und Andreas weiß nicht mehr genau, ob er, überarbeitet wie er ist, nun halluziniert oder wirklich eine Leiche gesehen hat.
Die Kantors informieren den ortsansässigen Polizisten Jean-Michel Zulesi, der von Marseille aus in seinen Heimatort strafversetzt wurde.
Als jedoch Andreas eines Nachts, er kann wieder mal nicht schlafen, in den Gassen von Miramas-le-Vieux niedergeschlagen wird, erwachen seine Lebensgeister. Gemeinsam mit Nikola beginnt er zu recherchieren und schnell kommen sie auf einen zwei Jahre zurückliegenden Fall, bei dem sich die Spuren des amerikanischer Studenten David Brown in Miramas-le-Vieux verlieren.
Allerdings scheint die Leiche, die Andreas gesehen hat, viel älter zu sein als zwei Jahre.
Das Fest des Friedens wird jedenfalls für die Kantors zum Fest der Aufregungen, Entdeckungen und sogar der Versöhnung, allerdings nicht unterm Weihnachtsbaum. Die Suche nach dem Geheimnis der Bewohner in Miramas-le-Vieux regt die Kantors dazu an, endlich über ihre eigenen Probleme offen zu sprechen und bringt sie, kein Weihnachtswunder, einander wieder näher.
Cay Rademacher entwirft eine spannende Handlung mit vielen atmosphärisch dichten Beschreibungen des ungewöhnlichen Ortes und seiner Bewohner, wobei die Konstellationen zwischen den Figuren nie ganz klar scheinen und man doch ahnt, wie alles zusammenhängen könnte.