Jonathan Coe: Middle England, Aus dem Englischen von Cathrine Hornung und Dieter Fuchs, Folio Verlag Wien, 480 Seiten, €25,00, 978-3-99037-101-5
„’Mach es doch wie alle anderen auch und verlass dich auf dein Bauchgefühl. Möchtest du auf derselben Seite stehen wie Nigel Farage und Boris Johnson?‘
‚Nein, natürlich nicht.‘
‚Na, also.‘
‚Ja, aber so einfach ist es nicht. Das alles ist lächerlich. Es ist so verzwickt. Wie sollen die Leute das denn entscheiden?’“
Am 24. Juni 2016 haben sich die Briten entschieden. Weise oder nicht, der Brexit beschäftigt Europa bis heute.
Jonathan Coes Roman beginnt sechs Jahre vor dem denkwürdigen Tag. Rund um ein Figurenensemble, das stellvertretend für die Stimmungen und Meinungen im Land stehen könnte, erzählt der britische Autor in ernsten wie auch komischen Episoden vom Leben der Leute.
Da ist Benjamin Trotter, ein fünfzigjähriger Autor, der sich um seinen verwitweten alten Vater kümmert, vom Immobilienmarkt profitiert hat und nun in einer Mühle, ähnlich einem Gemälde von John Constable, lebt. Seine Freund Doug arbeitet als Journalist und verzweifelt, auch nach der Finanzkrise 2008, deren Verursacher weiterhin glücklich Geschäfte machen, nahezu an seinem Beruf, besonders nachdem er sich immer wieder mit dem Pressereferenten von David Cameron trifft. Beider Gespräche öffnen den Lesern die Augen, wie die politischen Eliten von Oxbridge denken.
Benjamins Nichte Sophie geht auf die dreißig zu und schlägt sich als Akademikerin mit befristeten Lehraufträgen in Birmingham herum. Sie wird Ian auf einer Verkehrsschulung ( Ihr wurde eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 7km/h zur Last gelegt. Einfach nur lächerlich.) Ian kennenlernen und heiraten. Seine Mutter Helena wiederum steht für die Generation, die noch in ihren alten, rassistischen Denkmustern verharrt. Ian wird bei einer Beförderung nicht bedacht, aber dafür seine Kollegin. Er fühlt sich als weißer Mittelstandsmann diskriminiert und natürlich steht seine Mutter auf seiner Seite. Sophie wird sich von Ian auf Probe trennen. Sophies schwuler Freund heiratet einen steinreichen Emporkömmling, der nicht mehr in London, sondern in den Middlands leben will, um Gutes zu tun.
Die einen ziehen nach Frankreich, die anderen verlassen das Land, weil sie als eindeutig anders aussehend beleidigt und gehasst werden.
Der Leser schaut den mehr oder weniger sympathischen Protagonisten zu und fühlt sich ihnen auf irgendeine seltsame Weise verbunden. Wie sehr wünscht man Benjamin Erfolg mit seinem wohl sehr autobiografischen Roman „Eine Rose ohne Dorn“, den er schmerzlich aus 5000 Seiten Romanvorlage in jahrelanger Arbeit zusammengetragen, herauslösen wird. Wie sehr findet man Benjamin aber auch eingebildet, da er seinem Freund Philip Chase, einem Kleinverleger, klar macht, dass er natürlich erst bei den großen Verlagen sein Buch anbieten wird. Ohne mit der Wimper zu zucken, druckt Philip Benjamins Buch, da niemand den Stoff haben wollte. Und dann geht das Buch durch die Decke und keiner weiß eigentlich warum.
Dies ist eine von den vielen kleinen Geschichten, die Jonathan Coe zu einem grandiosen Teppich verwebt. Dabei entsteht ein intensiver Eindruck von der Stimmung im Lande, die dann zur Schicksalswahl der Briten wurde.