Anita Shreve: Das Echo der verlorenen Dinge, Aus dem Englischen von Mechthild Sandberg, Piper Verlag, München 2015, 304 Seiten, €19,99, 978-3-492-05654-0

„Nein. Nichts mehr ist normal. Wie sollte es das auch sein? Ich weiß immer noch nicht, wer ich bin. Und wenn ich es erfahre, entdecke ich vielleicht, dass ich überhaupt kein guter Mensch bin. Davor fürchte ich mich. Ich möchte wissen, wer ich bin, und habe Angst davor, es zu erfahren. Aber noch mehr Angst habe ich davor, es nie zu erfahren.“

Nach einer schweren Verletzung an den Füßen durch Granatsplitter wacht eine Frau, die offensichtlich Sanitätsschwester ist, im Krankenhaus von Marne 1916 auf. Nach und nach glaubt die Amerikanerin, sich an Dinge erinnern zu können. Sie meint, dass ihr Name Stella Bain sei. Sie weiß, sie kann einen Militärwagen fahren und sie kann wunderbar zeichnen. Warum sie all diese Fähigkeiten besitzt, kann sie sich nicht erklären. Unsicherheit begleitet ihre schwere Zeit im Kriegsgebiet. Sie leidet unter zeitweiliger Taubheit, Beinschmerzen und Gedächtnisausfällen. Irgendetwas hat ihr gesagt, sie müsse nach London in die Admiralität. Sie irrt durch die Stadt und hätte Lily Bridge Stella nicht auf der Straße entdeckt, wer weiß, was geschehen wäre.
Sie nimmt sie im Haus auf und rettet ihr das Leben, denn Stella erkrankt schwer. Lilys Ehemann ist Psychologe und Neurologe, er ahnt, dass mit Stella etwas nicht stimmen kann. Alle Symptome weisen auf eine Hysterie hin, die er in einer Gesprächstherapie mit ihr und ihren Zeichnungen, die sie selbst nicht deuten kann, eruieren will. Immer wieder geht er mit ihr in die Admiralität, in der Hoffnung jemand erkennt Stella. Schlagartig kehren die Erinnerungen bei Stella ein. Als sie erkannt wird, weiß sie wieder, das sie Etna Bliss heißt und Kinder hat.

Langsam blättert Anita Shreve dieses ungewöhnliche Frauenleben auf. Mit den Erinnerungen tauchen auch die dramatischen Szenen aus Etnas Privatleben auf, ihre unglückliche Ehe mit Nicholas Van Tassel, die Vergewaltigung, die Bilder ihrer Kinder Clara und Nicky und die Begegnung mit Phillip Asher, dem Etnas Mann so viel Leid angetan hat. Etna ist Phillip in den Krieg gefolgt, um etwas gutzumachen. Sie hat ihre Kinder in New Hampshire verlassen und nun muss sie um sie kämpfen. Ein Sorgerechtsprozess soll ihr zumindest den Kontakt zum jetzt neunjährigen Nicky, den der Vater in ein Internat gesteckt hat und sich kaum kümmert, regeln. Clara wird demnächst achtzehn Jahre und kann selbst entscheiden, wie sich der Kontakt zur Mutter, nach dem Zerwürfnis mit dem Vater, gestalten soll. Aber Etnas Chancen stehen schlecht.

Geschickt verbindet die amerikanische Autorin die Leiden des ersten Weltkrieges mit einem Frauenschicksal, das bei allen Beschreibungen der unsäglichen Schmerzen, die die Armeeangehörigen erleiden mussten, einem nahe geht. Etna fühlt eine moralische Verpflichtung und wird für ihr positives Handeln schwer bestraft. Ihr Leben wird von den Kriegsverletzungen beeinflusst und sie verliert den Prozess. Sie wird nach London zu Dr. Bridge zurückkehren und ihre Gesprächstherapie vorzuführen.

Anita Shreve bestätigt auch in ihrem neuen Roman ihren Ruf als routinierte Erzählerin. Sie geht nicht psychologisch in die Tiefe und das muss sie auch nicht, denn ihr Buch liest sich ohne oberflächlich zu sein mit den schnellen Handlungsverläufen, Ortswechseln und dramaturgischen Wendungen äußerst unterhaltsam.