Chandler Baker: Wisper Network, Aus dem Amerikanischen von Astrid Finke, Heyne Verlag, München 2020, 480 Seiten, €20,00, 978-3-453-27288-0
„Wenn wir sagten, wir würden lieber nicht in unserem Büro angefasst werden, meinten wir damit: Wir würden gern unsere Arbeit machen. Bitte.
Wir wollten aus demselben Grund im Job wie Männer behandelt werden, aus dem Menschen sich Smartphones kauften: Es machte das Leben einfacher.“
Sie brauchen am Morgen von Jahr zu Jahr doch etwas länger, um sich für den Tag im Büro fertigzumachen, sie wissen, dass sie ihre Kinder in keinem Zusammenhang während der Arbeit erwähnen sollten und sie fühlen sich auf der Karriereleiter nicht gerade im Vorteil, wenn ein Mann in gleicher Position zur Verfügung steht.
Die laute und charismatische Sloane, Grace, gerade Mutter geworden und ziemlich übermüdet und die traurige Ardie, die von Tony geschieden nun mit ihrem vier Jahre alten Sohn in einem wunderbaren Haus wohnt, sind gut ausgebildete Juristinnen, die über viele Jahre beim Sportbekleidungshersteller Truviv in Dallas, Texas ohne Fehl und Tadel arbeiten. Keine Frage, sie verdienen nicht schlecht, sie belasten ihre Kreditkarten hoch, sie tragen hohe, teure Schuhe und Markenklamotten und sind selbstbewusst. Und doch, spüren sie den eigenen Makel: Sie sind Frauen.
Als der CEO, Desmond, überraschend stirbt, ahnt Sloane sofort, dass nun ihr Vorgesetzter, Chefjustiziar Ames, an die Spitze rücken könnte. Einst hatte sie mit Ames ein Verhältnis. Gedeckt von Desmonds Wohlwollen wusste Sloane, dass Ames sie nicht benachteiligen würde. Plötzlich werden die Karten neu gemischt. Hinzu kommt, dass Ames ohne sie zu informieren, die junge Katherine eingestellt hat, die nun unter Sloane arbeiten soll. Die Frauen ahnen, dass da etwas läuft zwischen Ames und Katherine, ob einvernehmlich oder erzwungen ist nicht ganz klar.
Parallel zu all den Geschehnissen kursiert im Netz eine Liste mit den Männernamen, die Frauen belästigen. Die BAD-Tabelle, Begrapscher-Aus-Dallas-Liste, gelangt auch in Sloanes Hände. Sie setzt anonym Ames auf die Liste und doch weiß jede, wer es war.
Die Autorin Chandler Baker, selbst Anwältin, weiß wovon sie erzählt. Geschickt beschreibt sie die Lebenssituationen ihrer Hauptfiguren. Grace liebt ihrer Tochter Emma Kate und doch liebt sie auch ihre Arbeit. Da ihr Mann viel verdient, müsste sie nicht arbeiten, aber das bringt sie einfach nicht fertig. Ardie leidet unter der Scheidung von ihrem Mann und fühlt sich als Frau nicht anerkannt.
Sloane verdient eindeutig mehr als ihr Mann Derek, der im Schuldienst tätig ist. Sie leben ein kleines bisschen über ihrer Verhältnisse und nicht nur eine Nacht kann Sloane nicht schlafen, wenn sie an ihre Kreditkartenrechnung denkt. Keine Frage, jede dieser Frauen wird von Ames geschickt manipuliert, jede allerdings weiß auch, dass sie ohne seine Zuwendung im Job nicht weiterkommt.
Doch dann fällt Ames plötzlich aus dem 17. Stock. Vor diesem Geschehnis, das niemanden zu Tränen rührt, hatten die drei Frauen, auch um Katherine zu schützen und ihn nicht in die Führungsposition zu katapultieren, Ames und die Firma wegen Belästigung am Arbeitsplatz verklagt. Sie wussten, wenn sie sich nur beschweren, können sie sofort ihre Papiere nehmen und gehen.
Chandler Gabler lässt nun in die chronologisch erzählte Geschichte, Befragungen der Polizei, aber auch Zeugenbefragungen unter Eid und Recherchen der Anwaltschaft einfließen. Im Raum steht die Frage, wurde Ames gestoßen oder hat er aus Verzweiflung über die Klage und die Liste Selbstmord begangen. Vieles, was der Leser von den Frauen im Laufe der Handlung erfahren hat, stimmt plötzlich nicht mehr mit den wahren Geschehnissen überein. Katherine stellt sich auf die Seite der Firma und fällt ihren Kolleginnen, das zum Thema Frauensolidarität, in den Rücken, obwohl sie erzählt hatte, wie sie von Ames sexuell bedrängt wurde.
Weder Sloane, noch Ardie, noch Grace zögern, wenn es um ihre Vorteile geht, sie sind weder ehrlich, noch vertrauenswürdig, noch sympathisch. Als die Firma, natürlich von einer Frau vertreten, dann nach dem Tod von Ames die drei verklagt, sehen ihre Aussichten den Prozess zu gewinnen, katastrophal aus. Dass dieser Roman nicht mit einem Desaster für die Frauen enden kann, scheint jeder Leserin klar zu sein. Harvey Weinstein wurde auch verurteilt, obwohl es anfänglich für die mutigen Frauen, die gegen ihn ausgesagt haben, nicht gut aussah.
Chandler Gabler analysiert auch mit sarkastischem Humor die Arbeitssituation zwischen Männern und Frauen. Sie blickt tief in die amerikanische Wirklichkeit, indem sie nie nur das Opfer und den angeblichen Täter vorführt. Sie versteht es, die Leserin ebenfalls zweifeln zu lassen.
„Nicht alles kann man mit Geld kaufen, hatte man uns eingeschärft. Zeit kann man nicht kaufen. Worauf wir erwiderten: Blödsinn. Denn es gab Einkaufslieferdienste und Babysitter-Portale. Geld war, worauf wir scharf waren.“