Andrea Hejlskov: Wir hier draußen, Eine Familie zieht in den Wald, Übersetzung von Roberta Schneider, Mairisch Verlag, Hamburg 2017, 292 Seiten, €20,00, 978-3-938539-47-7
„Wir waren in den Wald gegangen, weil wir die Pseudoprobleme und die schlechten Angewohnheiten abstreifen wollten, wir wollten niedrigere Ausgaben haben, anstatt wie kopflose Hühner höheren Gehältern hinterherzulaufen. Wir wollten beweisen, dass wir keine Idioten waren. Wir wollten unsere Entscheidungen bewusst treffen.“
Ein Projekt für ein Jahr sollte es werden, ein Versuch, ein anderes Leben zu führen. Andrea und ihre Familie ist schon oft umgezogen, zuletzt auf eine dänische Insel. Aber glücklich sind sie nicht geworden. Ob es ihnen mitten im Wald gelingen sollte? Dieses Buch und vorher ein Blog erzählen schon lang vom Leben der Hejslkovs. Das sind Andrea, Ich-Erzählerin, Kinderpsychologin und in zweiter Ehe mit dem Musiker Jeppe verheiratet, und ihren Kindern, dem siebzehnjährigen Sebastian, der fünfzehnjährigen Victoria, dem zehnjährigen Silas und dem neun Monate alten Sigurd. Alle wohnen nun in einem Tipi und einer extrem kleinen Holzhütte mitten im Wald. An ihrer Seite steht als helfende Hand der Kapitän, ein Mann, der beides kennt, das Leben im Wald und unter Menschen. Viele Faktoren sprachen für die Familie dafür, etwas Neues auszuprobieren. Im Vordergrund stand, dass die Eltern das Gefühl hatten, sie haben den Kontakt zu ihren Kindern, die nach der Schule in ihren Zimmern verschwanden und nur noch auf den Geräten daddelten, verloren. Andrea fühlte sich permanent krank, Kopf- und Rückenschmerzen plagten sie. Ein Punkt mochte auch die Fremdbestimmung sein, die in fast allen Jobs Menschen unglücklich macht. Die Alternative und Befreiung: ein Leben ohne Schule, aber mit Hausunterricht, mit wenig Geld, ohne Wasseranschluss oder Elektrizität weit ab von der Gesellschaft.
Andrea wirft alles Zeug ohne Bedeutung, das sie umgibt, einfach weg. Sie entledigt sich aller persönlicher Unterlagen und verabschiedet sich von der Idee, irgendetwas beruflich erreichen zu wollen.
Die Kinder nehmen zu Beginn die Veränderungen erstaunlich gelassen hin. Hier hätte der Leser sicher mehr Widerstand erwartet. Victoria geht gern im Wald spazieren, Sebastian, der gern ein Gewehr haben wollte, entdeckt die körperliche Arbeit und Silas baut sich eine Baumhaus. Jeppe setzt sich in den Kopf, gemeinsam mit dem Kapitän eine Blockhütte für den Winter zu bauen. Das Holz dürfen sie mit der Erlaubnis des schwedischen Waldbesitzers fällen. Nach und nach, und hier ist die Erzählerin sehr ehrlich, zeigen sich erste Konflikte. Andrea ist gefrustet, da sie die schwere Hausarbeit erledigen muss, d.h. Wasser holen, kochen über einem Feuer, den Holzofen betätigen, Wäsche im Fluss waschen. Jeppe dagegen kann immer vorzeigen, was er geleistet und gebaut hat. Andreas Arbeit dagegen ist nicht sichtbar und wiederholt sich Tag für Tag. Hier spiegelt sich wieder der uralte endlose Konflikt zwischen Mann und Frau, die es nicht mehr gewohnt ist, alles hinzunehmen.
Auch wenn vieles besprochen wird, der Kapitän versucht, wie ein kleiner Diktator seine Ideen durchzudrücken. Klar ist aber auch, wenn die Leute im Wald sich nicht gegenseitig helfen, bleiben sie auf der Strecke. Genießt die Familie den warmen Sommer und die Natur, die reich und üppig ist, so ändert sich das Bild im Herbst. Die Sachen sind klamm und feucht, die Familie wohnt auf 16 m². Silas will vorzeitig eine Entscheidung herbeiführen, ob sie im Wald bleiben. Er möchte als „Computerjunge“ und nicht als „Wildnisjunge“ leben. Zu diesem Zeitpunkt ist die Beziehung von Andrea und Jeppe auf einem Tiefpunkt. Jeppe schreit nur noch herum, da nichts klappt und Andrea spürt, dass ihr Körper die Strapazen nicht mehr lang mitmacht. Alles geht plötzlich kaputt, der Computer, das Auto, der Generator. Und die Familie hat kein Geld, um Reparaturen vornehmen zu können. Im vermeintlichen Paradies sind alle von Zeitnot und ungewohnter Nähe gestresst. Immer wieder kommen auch Menschen, die den Blog gelesen haben, zu Besuch, auch Andreas Schwester. Als der Kapitän und die Schwester beschließen für sie ebenfalls eine Hütte zu bauen, eskalieren die Konflikte und die Ressourcen der Familie reichen nicht aus, alles zu stemmen. Die einschneidenden äußeren Lebensumstände haben letztendlich auch die Familienmitglieder geprägt und verändert.
Eins ist klar, alle Brücken hinter sich abzubrechen und ein Abenteuer zu wagen, dessen Ausgang völlig unberechenbar ist, bedarf schon eines enormen Leidensdruckes. Und auch wenn man über die neue Lebensweise und Entscheidung der Hejlskovs den Kopf schüttelt, denn immerhin haben wir ja viele Strapazen, die sie auf sich nehmen, in der modernen Zivilisation überwunden ( z.B. die geniale Erfindung der Waschmaschine), kommt man als Leser doch ins Grübeln und fragt sich unwillkürlich, ob man selbst ein bewusstes oder doch in vielen Teilen fremdbestimmtes Leben führt. Und man stößt auf diese Sätze, die nachdenklich stimmen:
„Jemand hat mal gesagt, dass Freiheit immer möglich sei und es nur darauf ankäme, worauf man zu verzichten bereit sei. Er hatte recht.“
Andrea Hejlskov erzählt ihre wahre Geschichte, die ja nun bereits sechs Jahre andauert, einerseits unterhaltsam und nachvollziehbar, zum anderen so ehrlich und analytisch, dass man sich dem Sog gar nicht entziehen mag.
Wenn man sich dann noch den Blog anschaut, will man sicher nicht sofort in den Wald ziehen, aber man versucht, zumindest gedanklich, das eigene Hamsterrad zu verlassen, um von außen aufs eigene Leben zu schauen.
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