Ursula März: Tante Martl, Piper Verlag, München 2019, 190 Seiten, €20,00, 978-3-492-05981-7
„Die Erwachsenheit, die heute als Voraussetzung eines emanzipierten Frauenlebens gilt, besaß sie, die Junggesellin aus einer pfälzischen Kleinstadt, schon zu einer Zeit, als viele deutsche Hausfrauen nicht einmal ein eigenes Bankkonto hatten.“
Ursula März gibt ihrer Patentante Martl eine Stimme, einer Frau voller Widersprüche, die sich nie in den Vordergrund gedrängt hat, eher den unscheinbarsten Tisch im Restaurant ansteuern würde, den herrischen Vater pflegt, ( Wenn in der Familie wegen Eigensinn jemand vom jähzornigen Vater je verprügelt wurde, dann war es Martl. Die einzige traurige Chance für sie die Aufmerksamkeit ihres Vaters zu erlangen. ) obwohl er sie eher abgelehnt als geliebt hat, der exaltierten Schwester phasenweise im Haushalt unter die Arme greift und dann wiederum seit den 1950er Jahren Auto fährt, einen Beruf ausübt, ihr eigenes Geld verdient und allein Reisen unternimmt. Tante Martl, die sich ständig um alle und alles sorgte, beginnt ihre Telefonate mit der Nichte in unterschiedlich abgestuften Seufzern und ist erbost, wenn die Nichte nicht genau weiß, was der Tante gerade auf der Seele liegt. In schönstem Pfälzer Dialekt wird die Nichte zurechtgewiesen und dann letztendlich aufgeklärt, wo der Schuh drückt. Mal ist es der unsägliche Fernsehauftritt von Thomas Gottschalk, dann wiederum die Eskapaden von Ursula März‘ Mutter, die Dauerkonkurrentin von Tante Martl ( mit der passiven kinderlosen Schwester Bärbl versteht sie sich besser ) oder eine Idee, die sie umtreibt und irgendwie nie zustande kommt.
Ohne Ehe- oder Lebenspartner und kinderlos wird Tante Martl, die jüngste Tochter und zum Verdruss des Vaters ein Mädchen, ihr Leben lang mit den Eltern verbunden sein. Sie wird immer im Haus der Eltern leben und sie bis zum Tod begleiten. Als sie 1990 pensioniert wird und die Eltern nicht mehr leben, könnte sie einen neuen Lebensabschnitt beginnen, sich sogar einen Hund anschaffen, was sie schon immer wollte. Aber sie setzt vieles nicht um und die Nichte fragt sich, warum die Tante ihre eigenen Wünsche nicht erfüllt hat. Sie reist und bleibt sich treu, katholisch und ewige CDU-Wählerin.
Warum soll man Tante Martl kennenlernen? Die Faszination beim Lesen liegt sicher daran, mit wie viel Empathie, aber auch Witz Ursula März ganz unverstellt ihre Familienverhältnisse beschreibt. In äußerst komischen Szenen schildert sie ohne ihre Angehörigen bloßzustellen, wie speziell das Frauenleben gerade im süddeutschen Raum beginnend bei den Großeltern aussah. Wie hat die Familie in schweren Zeiten zusammengehalten? Warum konnte die begabte Tochter nie ihren Lebenstraum verwirklichen? Welche kleinen Schwächen hatten die Schwestern und wie sind sie miteinander umgegangen? Wie haben die Frauen ihren Frust kompensiert, ohne zu wissen, dass sie es taten?
Ursula März ist nicht nur bei ihrer Mutter, aber auch bei Tante Martl nach einigen Erfahrungen auf die seltsamsten Reaktionen oder Launen gefasst. Und doch, wenn die mittlerweile sehr bekannte Literaturkritikerin zum ersten Mal im Fernsehen beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt ihre Auftritte hat und vorher voller Selbstzweifel und Lampenfieber fast vergeht, dann greift die Tante zum Telefon und stärkt ihr den Rücken. Eine der wirklich berührendsten wie witzigsten Szenen ist, wie die konservative Tante auf den verwegenen Kandidaten der Autorin zum Bachmann-Preis, Feridun Zaimoglu, reagiert.
„’Ursi!‘, rief Tante Martl. ‚Dei Räuberheld war dran. Isch hab die Auche zugemacht und bloß zugehört. Der Mann hat e Chance. Isch wett mit dir, der kriescht de erste oder de zweite Preis.‘ Er bekam den zweiten.“
Familie kann man sich nicht aussuchen und doch kann sie auf ihre ganz eigene Weise eine besondere Bereicherung sein. Tante Martl war sicher in ihrer Unerschrockenheit und Konzentration auf die wichtige Dinge bei aller seltsamen Ängstlichkeit im Kleinen ein Original. Und sogar auf ihrer Beerdigung sorgt sie noch für eine Überraschung.