Sophie Bienvenu: Sam ist weg, Aus dem Französischen von Sonja Finck und Frank Weigand, Claassen Verlag, Berlin 2020, 168 Seiten, €20,00, 978-3-546-10017-5
„Keine Ahnung, warum, aber plötzlich habe ich Lust zu reden. Normalerweise brauche ich das nicht. Sam weiß immer, was ich denke, sie kommt ohne ein Was-bisher-geschah aus. Sie ist mein besseres Drittel. Sie hält mich am Leben, auch wenn ich manchmal nicht mehr kann.“
Wie in vielen Großstädten leben auch in Montreal Menschen auf der Straße. Doch, was weiß man über deren Schicksal? Warum hat es sie aus der Bahn geworfen?
Sophie Bienvenu lässt in ihrem Roman Mathieu, einen jungen Mann, der mit seiner Hündin Sam obdachlos ist, erzählen.
Auf zwei Erzählebenen hört der Leser Mathieu zu. Zum einen ist er auf der Suche nach seiner anschmiegsamen Hündin Samantha, kurz Sam, die einfach verschwunden ist, zum anderen berichtet der Ich-Erzähler in Rückblenden von seiner Vergangenheit.
Mathieus Kindheit wurde durch seine alles beherrschende und oftmals manipulative Mutter dominiert. Nie hat der Vater sich gegen sie auflehnen können. Immer unter dem Mantel der selbstlosen Nächstenliebe handelt die Mutter egoistisch und nur auf den eigenen Vorteil bedacht.
Nichts gönnt sie ihrem Mann, den Sohn bindet sie eng an sich und lässt ihm keinen Raum zum Denken und Handeln. So traut sich Mathieu nicht zu sagen, dass er zu gern mit ins Ferienlager fahren würde. Er hat keine Freunde und einen Hund darf er natürlich auch nicht bekommen. Als der Vater früh verstirbt, krallt sich die Mutter am Sohn fest.
Als Karine in Mathieus Leben tritt, spielt das frühreife Mädchen mit der sexuellen Unerfahrenheit des Jugendlichen. Doch der Sex bindet beide aneinander. Katrine, Mathieus große Liebe, ist achtzehn als sie Mutter wird. Mathieu hatte sie zum Kind überredet und gibt dafür die Schule auf. Lila ist sein ganzer Stolz, er, aber auch seine Mutter sind vernarrt in das Baby. Als Ungelernter wird er in Fastfood-Ketten arbeiten, um die Kleinfamilie zu ernähren. Zuerst leben die drei bei der Mutter von Mathieu, doch Katrine hält es nicht lang aus. Nach zwei Monaten verlässt sie Kind und Mann und geht nach Halifax. Alle Träume von Mathieu von einem geregelten Leben mit Frau und Kindern vielleicht in einem Häuschen stimmen auf gar keinen Fall mit den Lebenswünschen von Katerine überein. Immer wieder hatte Mathieus Mutter sich in Gegenwart von Katrine als Mum bezeichnet, ein Affront, den auch Mathieu nicht aushalten kann. Als er etwas Geld gespart hat, zieht er in eine Mietskaserne mit Lila und findet in der wirklich hilfsbereiten alten Nachbarin eine Unterstützung.
Oft muss Mathieu nachts arbeiten.
Aber der alleinerziehende Mathieu liebt sein neugieriges Kind, ihre Fragen und ihre Lebendigkeit tragen ihn über viele Entbehrungen hinweg. Ab und zu fragt man sich als Leser, ob es in Kanada gerade für den jungen Vater und sein Kind kein soziales Netz existiert, das ihn auffangen könnte.
Parallel zu den Rückblicken in die Vergangenheit durchkämmt Mathieu die Stadt nach seinem Hund und findet Hilfe bei seiner Cousine. Ab und zu geraten die Erzählungen Mathieus in eine Schieflage. Als würde er sich Ersatzrealitäten schaffen, um weiterleben zu können. Der Gedanke, dass sein Hund, den er mit Lila aus dem Tierheim geholt hatte, zu Hundekämpfen missbraucht werden könnten, zerreißt ihm das Herz. Immer wieder erzählt er von Lila, die nun schon sechs Jahre alt ist. Doch wo ist die Tochter? Wo ist Katerine?
In seiner Vorstellung hat Katerine einen guten Lebenspartner und Lila lebt bei ihr, spielt im großen Garten und redet ab und zu mit dem Papa am Telefon. Eine Traumfantasie! Oder das Kind lebt bei seiner Mutter, eher ein Alptraum, aber immer noch besser als das, was wirklich geschehen ist.
Wenn Mathieu nicht mehr weiter weiß, dann schlägt er mit dem Kopf an die Wand. Aber der Schmerz tötet nicht die Erinnerungen. Dass Mathieu haltlos mit seinem Hund Sam durch die Straßen zieht, versteht der Leser am Ende. Nichts kann ihm mehr motivieren weiterzumachen. Nur sein Hund, der sich nachts an ihn drückt, lässt ihn den kommenden Tag ertragen.
Sophie Bienvenu erzählt psychologisch überzeugend von einem Menschen, dem das Schicksal übel mitgespielt hat. Depressiv und allein ist Mathieu nicht mehr in der Lage, der Traurigkeit zu entkommen. Zu sehr wünscht man ihm, dass sich jemand seiner annimmt und ihn festhält. Ein sehr dünner Schimmer am Horizont lässt hoffen.