Nele Neuhaus: Monster, Ullstein Verlag, Berlin 2023, 557 Seiten, €24,99, 978-3-550-20225-4
„Seitdem diese Frau an der Hintertür der Apotheke aufgetaucht war und ihr dieses absurde Angebot gemacht hatte, konnte sie über nichts anderes mehr nachdenken. Sie wusste nicht, ob sie es wirklich fertigbringen würde, den Mann zu töten, aber sie wollte ihm Fragen stellen. Sie wollte wissen, warum er Lissy hatte töten müssen?“
Lissy Böhlefeld, ein junges Mädchen von nur sechzehn Jahren, wurde kurz vor Weihnachten erdrosselt an einer Bahnstation gefunden. Der Kummer und die Trauer der Eltern ist unerträglich und ebenso der Wunsch, Rache zu üben. Doch wie ist es mit Recht und Gerechtigkeit in diesem Land bestellt? Wie kann es sein, dass der afghanische Asylbewerber, Farwad Mahmoudi, der wegen Vergewaltigung im Gefängnis saß, nun wieder im Ort frei herumläuft? Er, der alle mit seiner Altersangabe getäuscht und enttäuscht hatte und eigentlich längst erwachsen ist.
Das hessische Ermittlerteam um Oliver von Bodenstein, Pia Sander, Kai Ostermann, Kathrin Fachinger und Tariq Omari sucht nun nach dem Verdächtigen, den Zeugen ausgerechnet an dem bewussten Abend des Mordes mit Lissy gesehen haben wollen. Trotz Residenzpflicht ist er scheinbar untergetaucht. Befragungen im Umfeld von Lissy laufen ins Leere. Allerdings vermuten die Polizisten, dass Sara, Lissys beste Freundin mehr über diesen Abend weiß, als sie zugibt. Pia Sander liegt mit ihren Vermutungen sehr richtig, denn Lissy hatte die angebliche Übernachtung bei Sara nur vorgeschoben, um sich mit einem Mann, von dem sie besessen war, zu treffen.
Parallel erzählt Nele Neuhaus vom desillusionierten Richter Hawelka, der beim Jugendgericht mittlerweile an den immer neuen Anträgen der Verteidiger von Straftätern mit Migrationshintergrund verzweifelt. Immer wieder müssen Kriminelle wegen Verfahrensfehlern oder fehlendem Personal auf freien Fuß gesetzt werden. Niemand ahnt, welche persönliche Leidensgeschichte der Richter durchlebt hat und nun als lebende Zeitbombe seinen Gerichtssaal betritt.
Bei einem Verfahren, bei dem zwei ehrgeizige Verteidiger, denen es nur um den Sieg, aber nie um die Taten oder gar die Leidtragenden geht, und deren zwei feixende Mandanten und Mehrfachtäter, die kaum Empathie für ihre Opfer empfinden, wird Hawelka den gesamten Saal in die Luft sprengen. Vorher allerdings tötet er Kathrin Fachinger im Beisein ihres Kollegen Bodenstein. Niemand wusste, dass Kathrin und Hawelka ein Paar waren, niemand ahnte von Hawelkas Taten, die ihm keine Linderung verschaffen konnten, ganz um Gegenteil. Hatte Kathrin versucht, Hawelka von seinem Vorhaben abzubringen, so konnte Bodenstein vor der Katastrophe den Saal verlassen.
Als die Ermittler in ihrer Trauer um Kathrin, die an alle relevanten polizeilichen Informationen ohne Probleme gelangen konnte, dann jedoch herausfinden, was die Polizistin in einem Zeitraum von zehn Jahren hinter ihrem Rücken getrieben hat, schwindet jegliche Sympathie für die Kollegin. Akribisch genau hat Kathrin aufgelistet, wie sie und ihre Mitstreiter, auch Hawelka, Selbstjustiz geübt haben. Täter, die ihre zu geringen Gefängnisstrafen verbüßt haben, wurden von Kathrin und anderen entführt und hingerichtet. Sie sind die Monster, die sich über das Gesetz gestellt und im Namen der Gerechtigkeit erneut geurteilt haben.
Auch der angebliche Mörder von Lissy gerät in die Fänge der Gruppe um Kathrin, konnte allerdings fliehen. Auch wenn Lissys Mutter die Option bekommen hat, diesen Menschen zu töten, konnte sie es doch nicht tun und natürlich ist auch er nicht der wahre Mörder.
In einem äußerst verwickelten Handlungsverlauf reiht Nele Neuhaus nun diverse Taten und deren allzu milde Bestrafungen aneinander und es tauchen Getötete auf, die als vermisst gemeldet wurden. Doch wie kann es sein, dass extrem schwere Verletzungen des Rechts nie wirklich verurteilt werden? Prozesse werden in die Länge gezogen, Fristen nicht erfüllt, neue Instanzen angerufen und somit spazieren Intensivtäter frei in unserer Gesellschaft umher, um sofort wieder Menschen zu schaden. Frust, Wut und Hilflosigkeit der ermittelnden Polizisten, aber auch der gerichtlichen Seite werden thematisiert, genau so wie die Einhaltung von Gesetzen, die auch offensichtlich Ungerechtigkeiten zulassen.
Wie immer dreht sich, neben der Aufklärung von Lissys Fall, auch das Privatleben der Ermittler eine Rolle. Die Ehe von Pia und Christoph ist neuerdings spannungsgeladen und von Bodenstein hat seine zweite Scheidung hinter sich. Und natürlich fragen sich alle, warum sie nie erkannt haben, mit wem sie über die Jahre hinweg gearbeitet haben. Wie genau kennt man seine Kollegen, mit denen man unter Umständen mehr Zeit als mit der Familie verbringt?
Wie immer umkreist Nele Neuhaus sehr geerdet ernsthafte Konflikte unserer Gesellschaft, ohne irgendetwas zu beschönigen. Sie wirft Fragen auf, deren Antworten polarisieren könnten und doch bleibt sie auf der Seite unseres Grundgesetzes, denn Selbstjustiz kann keine Gerechtigkeit erzwingen.