Kate Elizabeth Russell: Meine dunkle Vanessa, Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer, C.Bertelsmann Verlag, München 2020, 448 Seiten, €20,00, 978-3-570-10427-9,
„Welches Mädchen würde das schon wollen, was er mit mir getan hat? Und dennoch, es stimmt, so unglaublich es klingen mag. Ich war die Sorte Mädchen, die es eigentlich nicht geben sollte: ein Mädchen, das sich quasi freiwillig einem Pädophilen ausliefert.“
Es ist das Motiv der verbotenen Liebe, die die Literatur seit je befeuert hat. Doch es gibt die unerreichbare Liebe zwischen Erwachsenen und die Sinnlichkeit zwischen Erwachsenen und Teenagern, die jedoch nur ein Gedankenprojekt bleiben sollte.
Als die Ich-Erzählerin, Vanessa Wye, im Jahr 2017 so einige Posts im Netz über ihren ehemaligen Lehrer Mr Strane an der Browick School, einem Internat in Maine, liest, ist sie kaum überrascht. Sie glaubt, alles über Strane zu wissen, denn sie war ihm wahrscheinlich, zumindest körperlich näher, als all die Mädchen, die sich ebenfalls über den Missbrauch an der Schule äußern werden.
Detailreich und chronologisch erzählt Kate Elizabeth Russell im Rückblick von den Jahren 2000 bis in die Gegenwart. Immer wieder wechselt sie jedoch in die Gegenwart der Hauptfigur, die in einem Hotel angestellt ist und weit unter ihrer Qualifikation arbeitet. Vanessa, die Frau mit dem auffälligen roten Haar, ist jetzt über dreißig, sie dröhnt sich mit Drogen und Alkohol zu, wirkt ziellos, privat chaotisch und hat den Kontakt zu ihrem Englischlehrer Strane gehalten. Jeder in ihrem Umfeld, u.a. ihr ehemaliger Freund Ira verurteilen das, was Strane seiner fünfzehnjährigen Schülerin angetan hat. Nur sie verteidigt ihn, ist der Meinung, dass auch sie Anteil an der sexuellen Beziehung hatte und ihn sogar dazu ermuntert habe. Alle Erinnerungsbilder sind von Vanessas Wunsch nach Normalität geprägt und somit auch trügerisch. Immer wieder gab es zwar Zeiten, in denen sie sich kaum gesehen haben, aber in ihren Gedanken war er immer anwesend. Ziemlich pathetisch wird er sich vor seinem Freitod bei ihr melden, um zu sagen, dass er nur sie geliebt hat. Da Vanessa bei Ruby eine Trauertherapie wegen ihres Vaters begonnen hatte, berichtet sie nun von ihrer Beziehung zu Strane, der sich von einer Brücke gestürzt hatte. Ruby ist die erste Person, die sie fragt, ob sie in ihren Lehrer verliebt war.
Im Zuge der Me-Too-Kampagne sprechen immer mehr Mädchen von ihrem Missbrauch durch Strane und eine Journalistin belagert auch Vanessa mit ihren Anfragen. Die Schuldfrage ist für alle geklärt und doch gieren alle nach Details, die Vanessa konsequent verweigert.
Dabei weiß sie nun, dass Strane immer die gleiche Masche angewendet hat. Jedem Mädchen hat er Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“ in die Hand gedrückt. Jedem Mädchen vielleicht ins Ohr geflüstert, dass auch er wie die Schülerin eine dunkle Romantikerin sei. Körperliche Berührungen mögen die Mädchen traumatisiert haben, doch Gewalt hat Strane seinen Schutzbefohlenen nie angewendet.
Zwar lebte er immer in der Angst aufzufliegen, aber bei Vanessa schien er instinktiv zu wissen, dass sie ihn nicht ausliefern würde. Ziemlich allein im Internat schreibt Vanessa an ihren Gedichten. Ihre beste Freundin Jenny hat sich von ihr abgewandt und doch wird sie und ihr Vater die Kampagne gegen Strane in die Wege leiten. Allerdings führt diese Aktion dazu, dass Vanessa das Internat vorzeitig verlassen muss und dem Lehrer keine Konsequenzen drohen. Der Grund: Strane hatte sie gebeten, dass sie sich selbst als Lügnerin vor allen outet, die einfach nur mit ihrem Englischlehrer angeben wollte. Und er hatte schlecht über sie gesprochen und unter Zeugen schon mal gestreut, dass er glaubt, sie habe sich in ihn verknallt.
In diesem Gespinst von Lügen, Heimlichkeiten und auch ehrlichen Gefühlen bleibt Vanessa gefangen. Durch das doch schlechte Verhältnis zu ihrer Mutter, die ahnt, dass zwischen dem Lehrer und ihrer Tochter etwas geschehen sein muss, findet das Mädchen auch keine nahe Vertraute, mit der sie vielleicht sprechen könnte. Mit Hilfe von Ruby findet Vanessa einen Weg aus ihrer so früh verankerten Symbiose mit Strane.
Kate Elizabeth Russell wertet nicht und versucht doch, Vanessa eine überzeugende Stimme zu geben. Mag sich eine einsame Schülerin in ihren Lehrer verknallen und möglicherweise er sich auch sie, so hat er doch noch lange nicht das Recht, sie sexuell zu wecken. Klar ist, ob pädophil oder ephebophil, wie es Vanessa nennt, strafbar sind die Handlungen des Lehrers ohne Frage und das Schweigen der Verantwortlichen in der Schule ebenfalls.