Martin Suter: Melody, Diogenes Verlag, Zürich 2023, 329 Seiten, €26,00, 978-3-257-07234-1
„Es geht letztendlich immer um die Frage: Will man sich das Leben nach dem einrichten, was man glaubt, oder will man das, was man glaubt, nach dem einrichten, wie man lebt?“
Dr. Peter Stotz, in der Oberschicht Zürichs einst ein bekannter wie erfolgreicher Unternehmer, Nationalrat, Kunstliebhaber und Angehöriger des Militärs, ist nun mit seinen vierundachtzig Jahren am Ende seines Lebens angelangt. Die Ärzte geben ihm noch ein Jahr und er will seinen Nachlass ordnen lassen. Dazu engagiert er mit einem großzügigen Salär den jungen Tom Elmer, der per Vertrag an das Anwaltsgeheimnis gebunden ist. Er soll in der Gästewohnung der Villa, die voller Bücher ist, wohnen, Stotz‘ jahrelang gesammelte Unterlagen sortieren und für eine mögliche spätere Biografie aufhübschen. Und Tom fungiert als geduldiger Zuhörer, denn Stotz hat viel zu erzählen. Bei gutem Essen und erlesenen Weinen versinkt der junge Mann, umsorgt von den treuen Bediensteten des alten Mannes, immer mehr in der Vergangenheit. Im Zentrum all der Geschichten steht Melody, eine junge Frau, deren Bilder und Erinnerungen an sie in fast allen Zimmern der Villa zu finden sind. Sie ist die große, wie tragische Liebe von Stotz. Beide lernen sich in einer Buchhandlung kennen, denn die attraktive wie belesene Frau, die aus einer marokkanischen, streng gläubigen Einwandererfamilie stammt, arbeitet dort. Zwanzig Jahre Altersunterschied scheinen den Liebenden nichts auszumachen. Ihrer gemeinsamen Zukunft steht eher die Familie, von der sich Melody trennen muss, wenn sie Stotz heiraten will, im Weg. Doch dazu wird es nie kommen, denn die unglaublich verführerische, junge Frau, deren Hochzeitskleid immerhin 54.000 Franc gekostet hat, verschwindet ohne ein Wort drei Tage vor der Ziviltrauung. Als gebrochener Mann sucht Stotz nun, auch etwas hämisch von der Gesellschaft belächelt, nach seiner Braut. Wurde sie von ihrem rachsüchtigen wie gewalttätigen Bruder entführt? Hat sie jemand anderen kennengelernt und doch kalte Füße bekommen?
Ausführlich beschreibt Stotz nun, wie er Melodys Spuren, und davon gab es angeblich einige, von Marrakesch bis Singapur verfolgte. Tom hört diese schon so oft erzählten, auch rührseligen Geschichten voller Verklärungen und entdeckt nach und nach doch Ungereimtheiten, auch in den Unterlagen, insbesondere über verschleierte Firmen. Mag man dem alten, immer freigiebigen Mann seinen Alkoholkonsum nachsehen, so hatte er doch eine dunkle Seite, die Tom jedoch nicht zu fassen bekommt. Erst durch Laura, die Nichte und Alleinerbin, wird Tom, der sich an das luxuriöse Leben schnell gewöhnt hat, hinter Stotz‘ Geheimnis gelangen und das liest sich atemberaubend spannend.
Martin Suter pflegt einen unterhaltsamen Erzählstil und zu Beginn fragt man sich beim Lesen schon, worum es in dieser atmosphärisch exzellent beschriebenen Handlung um einen steinreichen, aber alten Alkoholiker am Ende seines Lebens gehen soll. Doch schnell nimmt die Geschichte Fahrt auf und plötzlich kann man gefesselt von den ambivalenten Figuren, die anwesend oder nur Legende sind, nicht mehr aufhören Seite um Seite umzublättern.
Scheint die Geschichte nur in der Vergangenheit zu spielen, so wendet sie sich schnell dem gegenwärtigen Zeitgeist zu. Denn Tom und die Lesenden fragen sich nach und nach, ob Stotz‘ Lebensgeschichte mehr Fiktion beinhaltet als Wahrheit. Die Lüge als Lebensmodell ist nicht nur durch Social Media möglich, wo Menschen gern ihr Dasein interessanter darstellen als es real betrachtet wirklich ist? Und hier hält Martin Suter der Gesellschaft eindeutig einen Spiegel vor und schreibt literarisch meisterlich einerseits als Verführer und andererseits als Realist.