Helga Bürster: Luzies Erbe, Insel Verlag, Berlin 2019, 288 Seiten, €22,00, 978-3-458-17814-9


„Mit so einem Vater konnte man keinen Staat machen. Ohne ihn hätten seine Kinder vielleicht eine Chance in diesem Dorf. Luzie war wieder angekommen, ob es dem Dorf passte oder nicht. Sie kam darüber hinweg, er nahm die Schuld auf sich.“

Mit 97 Jahren ist Luzie Mazur gestorben, eine Frau, die die Familie als Matriarchin bezeichnet und die ihr Leben in einem Dorf bei Bremen verbrachte. Geprägt ist die Familie durch das sogenannte Mazursche Schweigen, althergebrachte Vorurteile und den ständigen Gedanken daran, was die Leute wohl sagen würden.
Gepflegt wurde Luzie von der ruhigen und gebeugten siebzigjährigen Thea und deren Tochter Johanne. Johanne hätte das Dorf verlassen können, hatte studiert und als Journalistin gearbeitet. Aber als die Mutter an Krebs erkrankte, kehrte sie schnell zurück und blieb. Zum Studium ist jetzt ihre Tochter Silje gegangen und vor mehr als dreißig Jahren schon die arrogante und stets fordernde Helene, die in zweiter Ehe mit Norbert verheiratet ist. Johanne kann Helene, die jüngste Tochter von Luzie, und ihre hochfahrende Art nicht ertragen. Thea kuscht vor ihr und beugt sich ihrem Diktat und ihren Anweisungen, in denen es immer darum geht, dass sie, Helene, ja kein Geld für die Familie ausgeben muss. Arm war die Familie, ohne Frage.

Als Thea am Totenbett der Mutter sitzt, verabschiedet sie sich und erinnert sich an mehr als schmerzliche Szenen und das Schweigen aus ihrer Kindheit. Sicher mussten die Frauen auf dem Land hart arbeiten, aber das war nicht der Grund, weshalb sie ihre Kinder nicht lieben konnten. Über nichts wurde geredet, denn: „Kummer, dat ist wat for feine Lüür.“
Nur der Großvater hat Thea zum Angeln mitgenommen, wenn im Dorf ein Fest war. Allen Kummer über die selbst gewählte Abschottung scheint Luzie, an den Kindern ausgetobt zu haben. „Er“ hat sie verlassen, der Vater von Thea und Helene, über den nie gesprochen wurde.

Im Zeitenwechsel erzählt Helga Bürster nun aus Johannes Perspektive vom Abschied der Familie von Luzie und der Kriegszeit, in der Luzie ihren Jurek kennen und lieben gelernt hat. Jurek kam als polnischer Fremdarbeiter, der Deutsch sprechen konnte, im Zweiten Weltkrieg ins Dorf. Luzie jedoch war mit August verlobt. Es hieß, August ist verschollen und so kommen sich Jurek und Luzie näher. Eine Verbindung, die bei Entdeckung und Denunzierung den Tod für den Fremdarbeiter und KZ für die deutsche Frau bedeutete. Zwei Kinder wird Luzie noch in der Kriegszeit zur Welt bringen, eins wird nach dem Krieg kurz nach der Geburt sterben. Wie auf Messers Schneide lebt die junge Frau, die Lügen erfindet, unter den Dörflern und immer in der Angst verraten zu werden. Aber auch im Dorf wächst die Unsicherheit darüber, was man sagen sollte oder auch nicht. Auch wenn Jurek und Luzie heiraten, sie werden zusammen nie im Dorf akzeptiert. Eine schmerzliche Erfahrung, die Jurek nicht verkraftet. Rückblickend war es kein glückliches Leben, weder für Luzie, noch für Jurek, den Johanne aufsuchen wird. Auch Thea spürte zeitlebens die tiefe Abneigung der eigenen Mutter, die immer nur arbeiten musste, und den Schmerz, den sie an ihre Tochter Johanne, die sich im Keller verkrochen hat, weitergab. Entspannt können nur Silje und Oma Thea miteinander umgehen.

Berührend liest sich dieser Roman, in dem Helga Bürster vom Schicksal ihrer eigenen Großeltern erzählt. Vieles blieb auch hier im Verborgenen und musste verfremdet und durch die Fantasie der Autorin im Handlungsverlauf ergänzt werden. Schonungslos fließt in die Handlung aber auch Gewalt und vor allem Bildungsferne ein, die gerade Mädchen zu spüren bekamen, wenn sie wagten, ein Buch anzufassen.