Anne Tyler: Launen der Zeit, Aus dem Amerikanischen von Michaela Grabinger, Kein & Aber Verlag, Zürich 2018, 303 Seiten, €22,00, 978-3-0369-5775-3
„ Ihre ganze Kindheit hindurch, hatte sie sich wie eine wachsame, ständig angespannte Erwachsene im Körper eines kleinen Mädchens gefühlt – während es ihr paradoxerweise jetzt gelegentlich so vorkam, als würde hinter ihrem Erwachsenengesicht ein etwa elfjähriges Kind auf die Welt hinausblicken.“
Wenn etwas Willa, und zum Ende des Romans ist sie bereits sechzig Jahre alt, Angst einjagen kann, dann eine wütende Frau. Und das hat mit ihrer Kindheit zu tun. Anne Tyler erzählt zeitversetzt von Willa Drake, die mit ihren Eltern und ihrer Schwester Elaine 1967 in Pennsylvania lebt. Ständig streiten sich die Eltern. Der gutmütige Vater, den Willa sehr liebt, ist den Wutattacken seiner Frau ausgesetzt. Aber Willas Mutter macht auch nicht vor den Kindern halt. Wenn sie ausrastet, dann schlägt sich mit den Gegenständen, die ihr in die Finger kommen, auf die Mädchen ein. Ein Alptraum, besonders dann wenn die Mutter tagelang wegbleibt. Einsam und verunsichert bleibt die Familie zurück. Willa kümmert sich liebevoll um ihre kleine Schwester, auch wenn sie selbst sich nach Geborgenheit und Sicherheit sehnt. Wenn die Mutter dann wieder auftaucht, scheint alles in Ordnung zu sein. Sie ist guter Dinge, singt und tut so als sei nichts geschehen. Mit dieser Unberechenbarkeit und dem Gefühl wirklich arm zu sein, kann Willa kaum umgehen.
Erzählt wird in vier Episoden vom Leben Willas zwischen 1967 und 2017.
Zehn Jahre später absolviert Willa in Illinois mit einem Vollstipendium ein Sprachenstudium. Derek, der unbeschwerte gut aussehende gut betuchte Junge aus Kalifornien hat sich in sie verliebt. Zum ersten Mal trifft er nun auf Willas Eltern und die unbeherrschte Mutter macht Willa die Hölle heiß, da sie heiraten will und somit ihre kostbare Selbstständigkeit aufgeben. Dabei hatte Willa mit dieser schnellen Verbindung zu Derek noch gehadert, denn eigentlich wollte sie ihre Studien beenden. Aber die verletzenden Worte der Mutter bewirken bei Willa eher einen inneren Aufruhr. Auch Elaine ist in ihrer pubertären Phase ein schwieriges Kind.
Das ist Anne Tylers große Stärke, sie erzählt vom ganz normalen Leben, von Familienkonstellationen, Müttern und Söhnen, Ehefrauen und Ehemännern, und lässt doch so vieles offen, dass der Leser mit seinen eigenen Ideen und Vorstellungen füllen kann.
Die Handlung setzt zwanzig Jahre später ein. Willa hat zwei Söhne bekommen, Sean und Ian, hadert mit dem ständig schönen Wetter in Kalifornien und erträgt Dereks aufbrausende wie rechthaberische Art. Diese verursacht dann auch den Autounfall, den er verschuldet und dabei zu Tode kommt. Willa überlebt die verhängnisvolle Fahrt und bleibt, zwar finanziell abgepolstert, aber ohne Lebensinhalt zurück. Sie wird wieder einen dominanten Mann heiraten, der sie aus ihrem vertrauten Umfeld reißt.
Der entscheidende Lebensabschnitt, der sie dazu bringen wird, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, beginnt spät, 2017. Willa sehnt sich nach Enkelkindern, aber ihre Söhne, die sich kaum melden und ihr auch irgendwie auch fremd geworden sind, gehen keine festen Verbindungen ein.
Und dann ruft sie eine gewisse Nachbarin von einer ehemaligen Freundin von Sean an und bittet sie um Hilfe. Denise wurde ins Bein geschossen und ihre neunjährige Tochter, sie ist nicht Seans Kind, braucht Betreuung. Ohne lang nachzudenken, sagt Willa ihre Hilfe zu und steigt ins Flugzeug. Ihr neuer Mann Peter kann sie nicht verstehen, reist aber mit. Beide gelangen in ein heruntergekommenes Haus bei Cheryl, dem leicht verfetteten, ziemlich einsamen, aber auch selbstbewussten Kind von Denise, das richtig gekochtes Essen kaum kennt. Willa fügt sich in die ungewohnte Umgebung, die Peter sofort verabscheut. Langsam entwickelt sich ein gutes Verhältnis zwischen Cheryl und Willa, die in dem Mädchen ab und zu auch sich selbst sieht. Freundlich sind die Nachbarn, kurios die Umstände. Denise ist nicht sonderlich sympathisch und doch findet Willa hier ihre Bestimmung und vielleicht auch eine Aufgabe. Und sie wagt eigene Schritte ohne Peter, der längst abgereist ist.
Zu gern folgt der Leser Willa auf ihrem Weg und hofft mit ihr, dass sie sich ihrer eigenen Fähigkeiten besinnt und selbst die Führung über ihr Leben übernimmt. Hat Willas Mutter ungebremst und voller Härte ihre Unzufriedenheit an ihrer Umgebung ausgelassen, so kanalisiert Elaine, die kaum ein gutes Verhältnis zu Willa hat, ihre Gefühle durch Schroffheit und Desinteresse.
In Willas Leben kann sich alles in verschiedenste Richtungen wenden, wie ein roter Faden jedoch zieht sich Gewalt durch einzelne Phasen.
Wie immer eine ergreifende Geschichte von Anne Tyler, intelligent, feinfühlig und wunderbar geschrieben.
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