Juli Zeh, Simon Urban: Zwischen Welten, Luchterhand Literaturverlag, München 2023, 448 Seiten, €24,00, 978-3-630-87741-9
„19:44 Uhr, Theresa per WhatsApp: Würdest du mich eigentlich auch derart beleidigen, meine Person, meine Freunde und gleich mein ganzes Bundesland, wenn ich schwarz wäre? Oder würde meine Identität dann mehr Respekt verdienen?
19:50 Uhr, Stefan per WhatsApp: Was soll das jetzt sein? Der Gipfel der kulturellen Aneignung? Opfer-Mimikry? Come on, Theresa. Mach dich nicht lächerlich.“
In kurzen Schlagabtauschen oder in langen E-Mails hauen sich Theresa Kallis und Stefan Jordan, beide Anfang vierzig, ihre Meinungen rücksichtslos um die Ohren, aber sie schreiben auch von ihren privaten wie beruflichen Sorgen wie Erfolgen. Sie waren als Studierende in Münster vor gut zwanzig Jahren enge Freunde, lebten zusammen in einer WG und kamen sich schon sehr nah. Stefan war wohl ziemlich verliebt in Theresa, aber sie ist, ohne ihr Studium der Germanistik beendet zu haben, aus Münster verschwunden. Zu ihrer eigenen Überraschung hat sie in Brandenburg, in Schütte, die Genossenschaft, einen landwirtschaftlichen Kleinbetrieb von ihrem Vater, der plötzlich an einem Herzinfarkt verstarb, übernommen. Stefan ist zum Kulturchef der renommiertesten Wochenzeitung in Hamburg aufgestiegen und versteht sich sehr gut mit dem Chefredakteur DES BOTEN. Theresa hat das Elternhaus grundsaniert, geheiratet und zwei Kinder bekommen, Stefan ist ledig. So die Ausgangslage dieses Briefromans, der sich eng an die Zeitereignisse des Jahres 2022 anlehnt und somit auch über Genderdebatten, Identitätsfragen, kulturelle Aneignung, strukturellen Rassismus, den ausgebrochenen Krieg in Europa und vor allem den Auswirkungen von Posts im Internet berichtet.
„Zwischen Welten“ bedeutet natürlich, dass sich Stefan im Westen mit den hochfliegenden Zeitgeistthemen, die Theresa despektierlich auch „Spielchen“ nennt, beschäftigt und Theresa im Osten als hart zupackende, bodenständige und körperlich arbeitende Landwirtin immer an der Pleite entlang schrammt. Theresa kämpft immer noch mit den Auswirkungen der Wende, auch den Entscheidungen ihres Vaters für den Hof, den behördlichen Schikanen, den EU-Verordnungen und ihren eigenen Leuten, die in der Genossenschaft ein Mitspracherecht haben. Ihre Familie sieht kaum etwas von ihr, denn Theresa scheint rund um die Uhr zu arbeiten. Wie sie die Zeit für die E-Mails findet, bleibt ein Rätsel. Genervt ist sie von Anfang an von Stefans Schreibweise, nie ohne die korrekten *****.
Temporeich und mit Humor versorgen die Autoren des Briefromans ihre Lesenden mit Informationen über die Situation in den Printmedien, deren anstehende Themen und Strukturveränderungen. Als Stefan eine Ausgabe nur zum Thema Klima auch mit Hilfe der Online-Redaktion in Berlin, deren Leiterin eine schwarze Frau ( oder darf man das auch nicht mehr sagen ) aus Simbabwe ist, durchdrücken kann, wird dies ein Erfolg. Allerdings muss er sich von zwei neunzehnjährigen, unausgebildeten Klimakatastrophen – Experten auf der Nase herumtanzen lassen. Er hält sie für naiv, sie benehmen sich arrogant und schauen auf die sogenannten weißen alten Männer, sprich Chefredaktion, herab.
Mit Leonie und Justin, die intern auch die „Klima-Taliban“ genannt werden, hat sich Stefan die Geister ins Haus geholt, die er nicht mehr loswerden wird. Die Aufmerksamkeitsmaschine soziale Medien wird ihn und sogar seinen serösen, anerkannten Chefredakteur in arge Schwierigkeiten bringen. Denn vieles ist so anders als noch vor Jahren.
Die Welt hat sich gewandelt, da kann ein neunzehnjähriges, von sich und seinen fanatischen Ansichten überzeugtes wie impertinentes Mädchen mit Zöpfen kraft seiner vorgeblichen Panik, dass die Welt in der Umweltkatastrophe demnächst untergehen wird, einen gestandenen Journalisten mit jahrelanger Erfahrung und Resümee einfach so per Shitstorm vom Sessel wehen. Die, die er angeblich beleidigt hat, erwartet gar keine Entschuldigung, aber die Öffentlichkeit ist beleidigt. Alle ducken sich weg, um ja nicht auch noch Zielscheibe des öffentlichen Mobbings zu werden.
Ein unbedacht geäußertes Wort in der Öffentlichkeit geleakt und schon springen alle auf den Zug der Empörung auf und stürzen sich auf den „Nazi“ und seine Familie, die in offensichtlicher Sippenhaft von allen in den Boden gestampft werden dürfen. Was bleibt, ist die Flucht.
Die Öffentlichkeit läuft auf Eiern, immer in der Angst etwas falsch zu sagen, um dann in den sozialen Medien gesteinigt zu werden. Wohin diese Entwicklung gehen soll, bleibt offen. Sensible Menschen nehmen sich das Leben, wenn Dummpfbacken Hassmails und vor allem Todesdrohungen versenden und ihren Mordfantasien freien Lauf lassen.
So formulieren sie Ideen zu einem besseren Journalismus nebst Ausgaben für interessierte Leser und Leserinnen ( so viel Zeit muss sein ) und eine vernünftige Tierhaltung, ohne dass die kleinen Landwirte am Hungertuch nagen.
Klammert sich Stefan an seine Arbeit und seinen zeitweilig untergehenden Tanker Wochenzeitung, so entwickelt sich Theresa immer mehr in Richtung Aktionismus und Radikalismus, denn alle ihre gut gemeinten Ideen und Papiere interessieren niemanden vom Landwirtschaftsministerium.
Doch wie endet dieser hochdramatische, temporeiche Roman, der die Diskussion über verhärtete Fronten und aggressive Reaktionen auf andere Meinungen und über die Debattenthemen der Zeit, anregen will. Angepasstheit und geforderte Akzeptanz der Dilettanten auf der einen Seite und Radikalismus und Provokation auf der anderen Seite. Man kann sich als Lesender mal auf die eine Seite und auch auf die andere Seite der Diskutanten schlagen.
„Es herrsche eine gewisse moralische Orientierungslosigkeit, in der sich die Menschen selbst Leitlinien suchten, und das gehe oft ins Anarchische. Es hätten sich zwar schon früher viele nicht besonders für andere Meinungen interessiert. Viele hätten verlernt, Ambivalenz auszuhalten“, schreibt Jana Simon in ihrem Juli Zeh Porträt, erschienen in der ZEIT. ( Bei welcher Zeitung wohl Stefan Jordan arbeitet. Die erste Kritik in der DER ZEIT ist übrigens vernichtend. )
Juli Zeh kennt Simon Urban vom Leipziger Literaturinstitut, sie war dort Gastdozentin und er Student, seitdem sind sie befreundet. Das Buch entstand nach vielen gemeinsamen Gesprächen über den polarisierten Diskurs in Deutschland.