Jennifer Senior: Himmel und Hölle – Das Dilemma moderner Elternschaft, Aus dem Amerikanischen von Juliane Gräbener-Müller, Verlag Kein & Aber, Zürich 2014, 325 Seiten, €22,90, 978-3-0369-5706-7

„Da so viele von uns heute Freiwillige in einem Projekt sind, in dem wir früher alle pflichtbewusste Rekruten waren, haben wir höhere Erwartungen an das, was unsere Kinder uns bringen werden, betrachten wir sie doch eher als Quellen existentieller Erfüllung, denn als Bestandteile unseres Lebens.“

Kinder verändern das Leben von Grund auf, sie wecken nicht immer unbedingt unsere Glücksgefühle, aber sie bereiten eindeutig Freude und bereichern und erweitern den Alltag um so vieles. Mädchen und Jungen sind allerdings erst in unserer Zeit „ökonomisch nutzlos“ und „emotional unbezahlbar“, wie es die Soziologin Viviana Zelizer bezeichnet hat, denn nie zuvor haben Eltern finanziell wie emotional so viel in Kinder investiert.

Wie sich in den verschiedenen Entwicklungsphasen des Kindes Eltern früher und heute in den USA verhalten, diesen Fragen geht die Journalistin und Anthropologin Jennifer Senior nach. Mit Hilfe zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und Statistiken von Psychologen, Erziehungswissenschaftlern, Schriftstellern, Historikern und Soziologen und durch Gespräche mit Eltern des Mittelstandes in Minnesota, Houston und New York untersucht die Autorin, warum Mütter und Väter, alleinerziehend, geschieden oder im intakten Familienverband in das Projekt Kind soviel Energie stecken. Da sich Staat und Privatwirtschaft nicht für die Kindererziehung interessieren und die Kinderbetreuung das Budget einer Mittelschichtfamilie sprengt, bleibt die Aufsicht der Kinder den Eltern rund um die Uhr überlassen.

Jeniffer Senior sucht Eltern auf, schaut sich ihren Tagesablauf an und hört genau zu. Wie wirkt sich die Elternschaft auf Erwachsene aus? Sind Erwachsene ohne Kinder glücklicher als die, die sich dazu entschlossen haben Kinder großzuziehen?

Dabei haben gerade die amerikanischen Familien mit dem Wegfall der Traditionen zu kämpfen und vor allem den gesellschaftlichen Veränderungen. Immerhin greift wie auch in anderen europäischen Familien nicht mehr die klassische Rollenverteilung.

„1975 gingen 34 Prozent der Frauen mit Kindern unter drei Jahren einer Arbeit nach. Bis 2010 war diese Zahl auf 61 Prozent gestiegen.“
Wie weit die Erwartungen an den Partner und der Ärger über die häusliche Arbeitsteilung auseinandergehen, dazu äußern sich viele Frauen und Männer in persönlichen Gesprächen. Schaffen es die Männer bei der Betreuung gerade von Kleinkindern, immer noch etwas Zeit für sich abzuknapsen, so routieren die Gedanken und Schuldgefühle der Mütter rund um die Uhr um das Kinderswohl. Multitasking ist das Zauberwort für Frauen, die neben der Betreuung der Kinder Deadlines einhalten müssen, also nebenher arbeiten und aus dem Zustand der permanenten Ermüdung und Überforderung nicht mehr herauskommen.

„Wenn Väter sich um ihre eigenen Dinge kümmern, kümmern sie sich um ihre eigenen Dinge, und wenn sie Kinder betreuen, betreuen sie Kinder.“

Besuchen die Kinder endlich eine Schule steigen die Erwartungen an ihre Leistungsfähigkeit und die Angst vor einer unberechenbaren Zukunft. Verplante Eltern karren ihre überbehüteten Kinder mit dem Auto vom Sport, zum Musikunterricht und zur Nachhilfe. Sie arbeiten ehrenamtlich und belasten sich finanziell, um dem Kind alles aber auch alles an Unterstützung zu geben, was sie für richtig halten oder die Kinder sich wünschen. Erstaunlich ist, dass Kinder auf den Straßen, auch in sicheren Gegenden, nicht mehr sichtbar sind. Sie gehen ihren Freizeitaktivitäten nach oder sitzen mit Freunden zu Hause vor dem Computer. Für viele Eltern ist zum Teil auch nicht mehr nachvollziehbar, was sie dort an den diversen technischen Geräten treiben. Durch diesen anstrengenden Erziehungsstil geraten auch Eltern schnell an ihre Grenzen.

„Die Mittelschicht ist heute der zweifelsfreien Überzeugung, dass man Kinder bis zur Perfektion fördern sollte, um sie für die Welt, die vor ihnen liegt, bereit zu machen. Doch unsere ungeordneten Bemühungen, oft widersprüchlich oder gar wahllos, lassen vermuten, dass wir keine genaue Vorstellung davon haben, was das eigentlich beinhaltet und welche Rolle wir in dieser wichtigen Angelegenheit spielen.“

Das Wort „Trophäenkind“ steht für die negative Seite des elterlichen Ehrgeizes und der erwartungsvollen Investion der Eltern in die ungewisse Zukunft des Kindes. Doch man kann von Kindern nicht verlangen, dass sie alle Hoffnungen erfüllen, glücklich und ausgeglichen sind, wenn in ihrem Leben alles wunderbar läuft.

„An dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass individuelles Glück genau das Ziel ist, das auch ich für meinen Sohn im Auge habe.“

Um dies zu ermöglichen, gibt es keinen Wegweiser und das weiß Jeniffer Senior. Kaum ist jedoch diese Phase überstanden, greift die Pubertät und alle wunderbar organisierten Aktivitäten schlagen, nicht in jedem Fall, in Kritik, Undankbarkeit, Reizbarkeit und Ablehnung gegen Vater oder Mutter um. Und plötzlich ist Schluss mit der Erziehung, die für viele Eltern zur Daseinsform geworden ist. Den Nachwuchs drängt es nach Unabhängigkeit, eigene Handlungsfähigkeit und vor allem der Suche nach der eigenen Identität.

Jennifer Senior macht gute, wenn gleich nicht immer neue Beobachtungen, formuliert richtige Einwände und beklagt die Unverbindlichkeit der Welt. Aber sie hat keinen Erziehungsberater für Eltern geschrieben, denn damit füllen sich ihrer Meinung auf Grund der Unsicherheit im Umgang mit Kindern schon genug Regale in den Buchhandlungen. Sie versucht unterhaltsam, unterstützt von zahlreichen Zitaten und Auseinandersetzungen mit wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Arbeiten von Margaret Mead bis Amy Chua und anhand vieler Einblicke in amerikanische Familien den heutigen Schwierigkeiten mit der Elternrolle nachzugehen. Dabei spart sie nichts aus, was es an gesellschaftlichen Veränderungen in den vergangenen Jahrzehnten gegeben hat, beginnend mit der Durchökonomisierung auch zwischenmenschlicher Lebensverhältnisse bis hin zum „Frühförderwahnsinn“ und „Erziehungswahnsinn“, den wir unseren Kindern angedeihen lassen. Sie zeigt, immer eingebunden in den historischen Kontext, wie modern die Entwicklung der Kindererziehung geworden ist und welche Konflikte daraus aus heutiger Sicht erwachsen.
Viele deutsche Eltern können sich in den Fallbeispielen sicher wiedererkennen, auch wenn Gelassenheit in puncto Kindererziehung neuerdings in Deutschland erlaubt ist. Die Karriere des Dreijährigen wird nicht mehr komplett bis zum Berufsabschluss durchgeplant und es ist auch möglich, dass ein Elfjähriger mal auf einen Baum steigen darf. Eltern, auch die sogenannten Heliokopter-Eltern, haben erkannt, dass sie vieles einfach nicht beeinflussen können. Zu diesem Schluss gelangen auch die amerikanischen, auch wenn es schwer fällt.