Sarah Moss: Gezeitenwechsel, Aus dem Englischen von Nicole Seifert, Mare Verlag, Hamburg 2019, 364 Seiten, €24,00, 978-3-86648-281-4
„ Ich bin ein totales Arschloch, dachte ich, weil ich dir das Taschengeld streiche, obwohl du traumatisiert bist und tapfer und klug und dein Herzschlag und dein Atem vor noch nicht einem Monat ausgesetzt haben, und es tut mir leid, und ich wünschte, ich hätte es nicht getan.“
Adam Goldschmidt arbeitet gelegentlich als Dozent an der Universität, er lehrt Kunstgeschichte für die Erstsemester. Sein akademischer Ehrgeiz hat sich im Laufe der Jahre gelegt und eigentlich ist er in seinem wirklichen Leben Hausmann. Zwar beschäftigen ihn immer wieder Projekte, z.B. momentan das Projekt über die Kathedrale von Coventry, aber sie scheinen nie in den Vordergrund zu rücken, wenn es wichtigere familiäre Probleme gibt. Und die werden kommen.
Vorrangig kümmert sich Adam zu Hause in den West Midlands um die Kinder, seit sie klein sind, er fährt die neunjährige Rose und die fünfzehnjährige Miriam zur Schule, er bekocht die Familie, kauft die Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke ein, plant die Urlaube, hält den Kontakt zum Vater und putzt das Haus. Er ist es, der sich ständig anhören muss, dass Rose sich so sehr eine Katze wünscht. Er muss dagegen argumentieren, um drei Minuten später erneut gefragt zu werden, ob es nicht doch möglich sei, eine Katze zu kaufen. Er ist es, der sich die harsche Kritik an der englischen Gesellschaft im Großen wie im Kleinen von Miriam anhören darf. Selbstbewusst sind beide Töchter und das ist auch sein Verdienst. Ehefrau Emma ist als Ärztin gefühlt rund um die Uhr tätig und für die finanzielle Stabilität im Hause Goldschmidt zuständig.
Aus der Ich-Perspektive erzählt Adam von seinem Alltag und dem Moment, an dem er einen Anruf entgegennimmt, der das Leben der Familie auf den Kopf stellen wird. Der magische Satz heißt:
„Es ist etwas passiert,….“
Miriam ist während des Schultages, sie hatte etwas vergessen und war in größter Eile, plötzlich umgekippt und wäre beinahe gestorben, hätte ein Mann nicht beherzt eingegriffen und sie wieder ins Leben geholt. Miriam kommt sofort ins Krankenhaus und für die Eltern beginnt nun eine Phase der Unsicherheit. Warum konnte dies geschehen? Adam und Emma sind davon ausgegangen, dass die Tochter kerngesund ist. Doch diese idiopathische Anaphylaxie, die zum Herzstillstand führen kann, kann viele Ursachen haben. Sicher ist es die schrecklichste Vorstellung von Eltern, die Kontrolle zu verlieren und den Moment des Eigengreifens zu verpassen, weil man einfach nicht in jedem Moment bei seinem pubertären Kind sein kann.
In den Stunden im Krankenhaus erinnert sich Adam an seine eigene Kindheit und die Tatsache, dass seine gesunde Mutter als wirklich gute Schwimmerin von einem Bad im Meer nicht mehr zurückgekehrt ist. Fragt sich nun, ist diese Krankheit genetisch bedingt und Rose davon ebenfalls betroffen? Der behandelnde Arzt, Dr. Chalcott, zweifelt daran, aber das Wissen um diese Krankheit, die sie so selten auftritt, ist auch begrenzt. Als Rose während eines Kindergeburtstages im Schwimmbad kurzzeitig Atemnot hat und keucht, holt Adam sofort einen Krankenwagen. Bei der darauf folgenden Behandlung scheint der Arzt, Adam für hysterisch zu halten und schickt den erbosten Vater gelangweilt nach Hause. Aber Adam und Emma setzen sich mit dem Tod, dem Gesundheitswesen, dass Emma zu gut kennt, auseinander und dem schlimmsten, was ihnen geschehen könnte. Emma überlegt sogar, ob sie mit ihren zweiundvierzig Jahren nicht doch noch ein Kind bekommen sollte.
Sarah Moss beschreibt nun aus Adams Sicht, existenzielle Situationen, in denen Adam langsam spürt, dass er sein Verhalten verändern muss. Am liebsten würde er nun nicht mehr von der Seite seiner Töchter weichen, aber das funktioniert einfach nicht. Er kann im Schwimmbad nicht in die Mädchenumkleidekabinen mitgehen. Frauen beäugen ihn schon aufgebracht, wenn er nur im Schwimmbad steht und auf seine Tochter wartet. Immer wieder kommt er an den Punkt, wo nach der Mutter gefragt wird und nicht nach dem Vater.
Aus dem Krankenhaus entlassen, beginnt für Miriam kein normaler Alltag. Sie darf bis ans Ende ihres Lebens, ob sie nun tanzen geht oder im Meer schwimmt, nicht ohne ihren EpiPen aus dem Haus gehen. Da nicht klar ist, was der Auslöser der Anaphylaxie ist. Adams Einfluss auf Miriams Verhalten, die sich eher in ihrem Zimmer einschließt als an die frische Luft mit ihm zu gehen, hält sich in Grenzen, das jedoch versteht er nicht und kämpft dagegen an.
Immer wieder kreisen Adams Gedanken um die Töchter, auch um sein Projekt als Miriam wieder mit allen Vorsichtsmaßnahmen in die Schule geht und auch um seine Ehe, die diese Krise überstehen muss, zumal sich Emma zurückzieht und bei allem Arbeitsstress immer dünner wird.
Vieles im Leben der Goldschmidts ändert sich auch äußerlich, so verzichten sie auf die kaum inspirierenden Verwandtenbesuche zu Weihnachten und gestalten das Fest nach den Vorstellungen der Mädchen und letztendlich wird auch Rose eine Katze bekommen, obwohl Adam weiß, dass er das Katzenklo säubern muss.
Es ist eine Achterbahnfahrt, die die Familie Goldschmidt jedoch wieder heil auf dem Boden landen lässt. Sprachlich ist es ein Genuss, Sarah Moss‘ Erzählungen aus der Sicht Adams zu folgen und in die Geschichte seiner Projekte wie einer Flucht aus der Realität abzutauchen.
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