Cay Rademacher: Ein letzter Sommer in Méjean, Dumont Buchverlag, Köln 2019, 464 Seiten, €22,00, 978-3-83218371-4
„Renard sucht den Mörder. Vielleicht ist er auf der falschen Spur. Wahrscheinlich ist er auf der falschen Spur. Und doch … Er ist wie ein Gespenst, das ruhelos durch die Calanques spukt. Und Sylvie heimsucht. Denn Sylvie weiß, wer Michael Schiller getötet hat.“
Vor dreißig Jahren wurde in der Bucht in der Nähe von Méjaen Michael Schiller erschlagen. Er gehörte zu einer sechsköpfigen Freundesgruppe, gerade hatten sie ihr Abiturzeugnis erhalten, die Welt lag ihnen 1984 zu Füßen. Fröhlich war die Truppe, ausgelassen und unbeschwert. So wirkte es zumindest nach außen.
Nun, dreißig Jahre später, treffen sich alle wieder an dem Ort des Verbrechens. Alle haben einen Erpresserbrief, der eindeutig Insiderwissen preisgibt, erhalten und jetzt endlich soll der wahre Mörder gestellt werden. Auch die Polizei von Marseille hat Post bekommen und schickt Commissaire Marc-Antoine Renard, einen Mann, der von seiner Krebskrankheit gezeichnet ist.
Claudia Bornheim war die damalige Freundin von Michael. Heute ist die Achtundvierzigjährige Politikerin bei den Grünen und bekleidet ein Ministeramt. Den Brief in der Hand weist sie ihre Assistentin an, alle Termine abzusagen und reist sofort los. Auch Dorothea Kaczmarek und ihr Mann Oliver steigen in Bonn sofort ins Auto. Dorothea arbeitet heute als Gymnasiallehrerin und der promovierte Oliver ist seit Jahren nach einer einst so hoffnungsvollen Karriere an der Universität arbeitslos. Dorothea und Oliver kennen sich seit dem sechzehnten Lebensjahr und waren auch damals ein Paar, ein ziemlich langweiliges. Barbara, auch Babs genannt, war schon immer etwas übergewichtig und eine Freundin, die sich auch ums leibliche Wohl kümmert. Und dann ist da noch der erfolgreiche Künstler Rüdiger von Schwarzenburg, der extrem gut verdient und immer etwas distanziert war. Alle fünf sehen sich im Sommerhaus von Michaels Familie wieder. Hier sind die Betten bezogen und der Kühlschrank ist gefüllt.
Nach dem Ende des tragischen Urlaubs hatten sich alle sechs aus den Augen verloren. Immer wieder konnte man über die Presse etwas von Claudia oder Rüdiger hören, aber alle anderen führten ihr Leben sehr privat. Commissaire Renard fragt sich, warum lassen die fünf ehemaligen Freunde nun alles stehen und liegen und kehren ausgerechnet nach dreißig Jahren an diesen Ort zurück. Was stand in den einzelnen Briefen, was sie so aufgewühlt hat?
In Rückblenden umkreist der Cay Rademacher nun die Geschehnisse im Sommer 84. Was haben die damals jungen Leute ausgesagt, was haben sie verschwiegen? Wie kann der Ermittler, der etwas Deutsch spricht, die Angereisten befragen? Renard bleibt zuerst auch im Ort inkognito. In seiner ruhigen wie bedachten Art nähert er sich am Strand oder im Ort den fünf deutschen Urlaubern.
Auch im kleinen Küstenort Méjean rumort es, denn die Ankunft der Deutschen und des Ermittlers, es bleibt nicht lang ein Geheimnis, erregt die Gemüter, besonders die von Elaine und Henri Pons.
Aber auch die ehemaligen Nachbarn von Michael, das Ärztepaar Francis und Sylvie Norailles, sind beunruhigt. Vor dreißig Jahren hatten die deutschen Touristen den Babysitterjob für Tochter Laura übernommen. Alles lief gut und Michael verkündete, dass er nachdem die Eltern von Laura zurückgekehrt waren, noch schwimmen und zeichnen geht. Von diesem Ausflug ist er nicht mehr zurückgekehrt. Doch was ist wirklich in dieser Nacht geschehen? Wer ist ihm gefolgt oder war es doch ein Unbekannter, der durch Zufall vorbeikam und Michael getötet hat? Immerhin wurde sein Rucksack nie gefunden.
Nach und nach und in epischer Breite erfährt der Leser nun welche Dynamik zwischen den ehemaligen Freunden herrschte. Michael war offensichtlich der schillernde Star, er hatte sozusagen im Vorbeigehen das allerbeste Abitur abgelegt und zog sich so Olivers Feindschaft zu, der voller Energie und Ehrgeiz darauf hingearbeitet hatte. Aus Liebe zu Dorothea reist Oliver mit nach Südfrankreich. Die doch recht passive Dorothea jedoch würde sich gern aus der Bindung mit Oliver lösen und offenbart sich in einem Brief Rüdiger, den sie wirklich begehrt. Babs himmelt den Überflieger Michael an, der finanziell alles hat und alles kann, sogar überragend malen.
Zeichnet sich zu Beginn nach außen ein ideales Bild von Michael ab, so trägt Ermittler Renard eine Schicht nach der anderen von diesem Image ab. Mochte Michael ein einnehmendes Lächeln aufsetzen, wenn er konnte, versetzte er Fremden, aber auch seinen offenbar von ihm abhängigen Freunden gern einen verletzten Stoß.
Cay Rademacher umkreist den alten Fall mit seinem gesundheitlich angeschlagenen Commissair systematisch. Atmosphärisch dicht spürt man beim Lesen die Schweißperlen der Figuren auf der Stirn und sehnt sich nach einem kühlen Bad im Meer. Mag die Ungewissheit über einen gewaltsamen Tod das Leben der Protagonisten beeinflusst haben, offenbaren doch erst die Reflexionen nach dreißig Jahren die Lügen, die die Freunde der Polizei aufgetischt haben und ihre eigenen Lebenslügen die Dramatik der Geschichte.
Als der Rucksack von Michael am Ort des Verbrechens auftaucht und der Brief, den Dorothea damals an Rüdiger geschrieben hat, sichtbar wird, nimmt die Handlung Fahrt auf.
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