Donna Leon: Flüchtiges Begehren, Commissario Brunettis dreißigster Fall, TB, Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz, Diogenes Verlag, Zürich 2022, 315 Seiten, €24,00, 978-3-257-24660-5

„Brunetti fand seit Jahren, manche Arten von Liebe könnten ihren Namen ruhig etwas zurückhaltender aussprechen. Merkten diejenigen denn nicht, wie unangenehm dieses Thema jedem sein musste, der die sexuelle Orientierung seiner Mitmenschen nicht für ein Thema hielt, über das man debattieren oder urteilen sollte?“

Die achtzigjährige, amerikanische Autorin Donna Leon sagte in einem Interview, ihre Hauptfigur Guido Brunetti werde alt. Aber davon ist im neuen Kriminalroman wenig zu spüren. Immerhin leben Brunettis Kinder immer noch Zuhause und da ergeben sich viele aktuelle Themen, die den Commissario in Debatten, z.B. über das Wort Sklave oder auch das ständige Thema der Vetternwirtschaft verwickeln. Außerdem frönt er wie immer seiner Leseleidenschaft und nimmt sich die neue Übersetzung des Tacitus vor.
Und Brunetti scheint eine ganz neue Seite seines Berufes zu entdecken, die verdeckte Ermittlung als lahmarschiger Bürokrat. Er findet sogar die passende Kleidung, die er dann schnell wieder entsorgt.

Alles beginnt mit einer Zeitungsnachricht. Zwei junge Studentinnen wurden schwer verletzt von zwei Männern am Krankenhaus abgelegt. Brunetti ermittelt schnell die Namen der beiden, Marcello Vio, ein Hilfsarbeiter, der bei seinem Onkel Pietro Borgato angestellt ist und Filiberto Duso, ein Anwalt.
Beide Männer, Freunde seit Kindertagen, hatten die Studentinnen auf dem Campus angesprochen. Man war sich sympathisch und so fuhren alle vier mit dem Boot auf die Lagune hinaus. Doch dann beschleunigte Vio plötzlich und überhörte die Schreie der Frauen. In der Hektik fährt er auf ein Hindernis und der Unfall verursacht beim Aufprall die schweren Verletzungen der Frauen, aber auch Vio hat sich eine Rippe gebrochen. Beim Verhör in der Questura sackt er plötzlich zusammen. Durch Capitano Nieddu erfährt Brunetti, dass Vios Onkel Borgato irgendwie schnell zu Geld gekommen ist und irgendwelche Schmuggelgeschäft betreibt. Duso versteht sehr schnell, was Brunetti ihm vorwirft, immerhin sind das Verlassen einer Unfallstelle und vor allem unterlassene Hilfeleistung strafbar. Dabei schwören die Männer, sie hätten in der Dunkelheit den Notrufknopf beim Krankenhaus gedrückt. Allerdings existiert dieser gar nicht mehr. Brunetti ermittelt weiter, denn er vermutet hinter dieser Fahrt doch einiges mehr und bekommt Informationen über Vios Onkel, die ihn nachdenklich stimmen. Nach und nach stellt sich auch heraus, dass Vio aus Angst, die Frage ist wovor, in dieser Nacht das Boot auf Hochtouren gebracht hat. Und langsam wird klar, dass Vio und Duso eher ein Paar sind als nur Kumpels. Vios Onkel könnte dies wohl kaum verstehen. Die Ausflüge mit den jungen Frauen sind nur das Feigenblatt, um dem Onkel zuzutragen, dass Vio ein echter Mann ist. Die heile Familie, ein Thema, dass durch die neuen Entwicklungen in Italien mit einer neofaschistischen Ministerpräsidentin aktueller denn je ist.
Schnell jedoch wird deutlich, dass die Aktionen des Onkels kaum etwas mit moralisch reinen Handlungen zu tun haben. Der Neffe ist nur ein beliebiger Handlanger, der aus Familiengründen schon den Mund halten wird, wenn die menschliche „Handelsware“ ins Land geschmuggelt wird.

Am Puls der Zeit bleibt auch dieser zu Beginn eher ruhig einsetzende Kriminalroman, der Fahrt aufnimmt und mit einem Paukenschlag endet.