Matthias Jügler: Die Verlassenen, Penguin Verlag, München 2021, 170 Seiten, €18,00, 978-3-328-60161-6
„ Ich habe mich längst mit der Gewissheit angefreundet, dass ich nie alles verstehen werde und dass es Dinge gibt, die für immer im Verborgenen bleiben. Daran denke ich zum Beispiel, wenn sich jemand aus heiterem Himmel nicht mehr meldet und eine Verbindung gewachsen über Jahre, sich plötzlich löst. Ich fühle mich außerstande, den ersten Schritt zu tun, aus Scham, wie ich eingestehen muss, und auch aus Angst, ich könnte das Offensichtliche nicht sehen – nämlich dass er oder sie einfach keinen Kontakt mehr möchte.“
Erinnerungen begleiten den in sich zurückgezogen lebenden Johannes Wagner. Eingerichtet in einem langweiligen Job mit eigenem Büro in Halle an der Saale kann er bei sich bleiben, muss keine oberflächlichen Kontakte pflegen. Seinen Sohn Jasper sieht er alle vierzehn Tage, die Beziehung zu Katja ist zerbrochen. Immer wieder schweifen seine Gedanken in die Kindheit zurück. Seine Mutter hatte Johannes 1986 verloren, da war er fünf Jahre alt. Angeblich verstarb sie an einem Herzinfarkt. Allein mit seinem Vater gab es für den Jungen gute Momente, z.B. wenn sie zusammen im Auto Kriminalhörspiele hörten oder zusammen Musik hörten. Aber der Vater zog sich auch immer wieder in sein Zimmer zurück, arbeitete an seinen Manuskripten. Aus der Sehnsucht heraus dem Vater einen Gefallen zu tun, begeht der Sohn Fehler und kann die Folgen nicht verstehen. Nur der immer gut gelaunte Wolfgang, ein enger Freund des Vaters, muntert das Kind auf. Und dann, 1994, verlässt der Vater seinen Sohn, da ist er dreizehn Jahre alt. Von Stunde an überschattet eine Melancholie, die sich zu einer Depression ausweitet, das Leben des Johannes Wagner. Bei der Großmutter lebt der Junge ca. anderthalb Jahre, und als sie stirbt ist er noch ein Teenager. Er wird die Schule beenden, studieren, arbeiten.
Doch dann findet er im Nachlass seines Vaters einen Brief. Er lässt sich krankschreiben und reist über Rostock, Oslo nach Grimstad. Hier wird sich langsam der Schleier, der immer über seiner Kindheit gelegen hat, schmerzlich lüften. Hier wird er Einblick in die Stasiakten seines Vater erlangen. Johannes Eltern hatten sich einem gesellschaftskritischen Lesekreis angeschlossen und mit ihren Protesten die Stasi alarmiert. Die üblichen Zersetzungsmaßnahmen und operativen Vorgänge setzten ein und zerstörten nicht nur ein Leben.
Matthias Jügler hat eigens für den Roman, auch um die Authentizität der Geschichte zu unterstützen, die Akten in sehr echt wirkenden Pseudofaksimiles dokumentiert. Fotos, handgeschriebene Berichte und Unterlagen mit der Schreibmaschine verfasst, offenbaren die auch anzuzweifelnden Berichte der Stasimitarbeiter.
In einer eindringlichen Sprache wechselt Matthias Jügler die Erzählebenen zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Er hat eine Geschichte geschrieben, die zwar erfunden ist, im Kern jedoch wahr. Sie lehnt sich an die Erzählungen des Malers Moritz Götze ( Widmung am Ende ) und den Erfahrungen der Künstler zu DDR – Zeiten an. Wie die Leerstellen durch die Abwesenheit der Eltern die Kindheit und das spätere Leben eines Menschen prägen, zeigt der Autor auch durch den markanten Ton des Ich-Erzählers in literarisch genauen Bildern und Szenen.
Aber er geht auch darüber hinaus. Als Johannes durch die Einblick in die Stasiakten mehr über seinen Vater und dessen Bespitzelung erfährt, gelingt ihm auch etwas, was überraschend und bewundernswert ist.