Henning Boëtius: Der weiße Abgrund – Ein Heinrich-Heine-Roman, btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House, München 2020, 192 Seiten, €18,00, 978-3-442-75076-4
„Das Schlimmste aber ist eine andere Halbheit, die ihn quält: nicht richtig leben zu können und nicht sterben zu dürfen. Müde zu sein und nicht schlafen zu können. (…) Das Einzige, was ihm ein wenig hilft, ist das Verfertigen von Reimen.“
Henning Boëtius hat bereits über den alten von Goethe und Heinrich von Kleist geschrieben, nun widmet sich der achtzigjährige Berliner Autor dem sterbenden Heinrich Heine, der sich selbst als „der lebende Leichnam“ bezeichnete, in seiner Matratzengruft in Paris. 1854, ein Jahr vor seinem Tod, bezieht der kranke Dichter mit seiner matronenhaften Mathilde eine größere Wohnung. Seine ungebildete, sehr lebensfrohe Ehefrau, die ihren Papageien scheinbar mehr Beachtung schenkt als ihrem Mann, spricht dem Essen und Trinken mehr zu als geistigem Austausch. Man sagt, sie habe nie gewusst, mit wem sie da eigentlich verheiratet ist.
Für Leser, die mit Heinrich Heines Leben und Werk vertraut sind, mögen diese Details aus seinem Leben nicht neu sein. Aber Henning Boëtius erzählt so unterhaltsam und bildreich, dass man zu gern, an Heines Seite und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bleibt und einen Blick in seine Jahre in Paris wirft. Und so springt der Autor zu Beginn auch in den Zeiten hin und her und konzentriert sich dann letztendlich doch auf den Niedergang von Heines leiblichen Kräften. Sein Arzt, David Gruby, ebenfalls Jude und ein Mensch mit wissenschaftlichem Verstand, ist Heine durchaus sympathisch. Gruby versucht, die Leiden des Dichters so gut wie möglich zu minimieren, indem er solche Prozeduren wie den allseits beliebten Aderlass unterlässt. So verwundert den Arzt, auch über den Tod des Dichters hinaus, dass Heine angeblich an Syphilis erkrankt sei. Die Erfahrung besagt, dass zum Nachlassen der Sehfähigkeit bei diesem Krankheitsbild auch das Gehirn nicht mehr klar arbeiten kann. Seine Diagnose lautet eher Bleivergiftung, die er jedoch nie beweisen konnte.
Einfühlsam versucht Henning Boëtius sich in den bettlägerigen, extrem anspruchsvollen, wie geräuschempfindlichen Heinrich Heine hineinzuversetzen. Die Salons der Großstadt Paris sind ihm längst verwehrt, aber er kann immer noch in seiner Wohnung empfangen. So nähert sich ihm auch eine Bewunderin, die er Mouche nennen wird. Sie unterzeichnet mit Elise Krinitz ihre überschwänglichen Liebesbriefe und hofft, durch Heines Protektion sich als Autorin einen Namen machen zu können. Ihr Kompagnon, ein gewisser Alfred Meißner, nähert sich ebenfalls dem ungeschützten Dichter, um dessen Memoiren, an denen er angeblich arbeitete, dem sogenannten Opus Magnum, habhaft zu werden.
Neben diesen Episoden aus Heines Leben schaut Henning Boëtius auch aus Heines Fenster, um von den Bauarbeiten zu Zeiten von Napoleon III. zu berichten. Er streift durch die Salons und sinniert über Heines Abkehr von revolutionären Ideen.
In vielen Passagen verzichtet Boëtius auf lange Dialoge, zitiert auch nicht nur allzu Bekanntes, sondern konzentriert sich eher aufs Erzählen und Beschreiben und das in einer poetischen, wie bildreichen Sprache. Zwischen der Trauer um den Verlust, Heine, der sich den „entlaufenen Romantiker“ nannte, wird nicht mal sechzig Jahre alt, drängt sich auch immer der wache Geist des genialen Dichters.
„Und die armen Götter, oben im Himmel
Wandeln sie, qualvoll,
Trostlos unendliche Bahnen,
Und können nicht sterben,
Und schleppen mit sich
Ihr sterbliches Elend.-
Ich aber, der Mensch,
Der niedriggepflanzte, der Tod-beglückte,
Ich klage nicht länger.“