Linda Benedikt: Der Rest ihres Lebens, Arche Verlag, Hamburg 2015, 224 Seiten, €18,99, 978-3-7160-27325
„Und auf einmal sah ich mich so, wie sie mich wohl sehen musste. Eine alleinstehende ältere Frau ohne Mann und ohne sinnvolle Beschäftigung, in praktischen, unscheinbaren Kleidern und mit altrosa Fingernägeln.“
Dorothy Fall lebt ein finanziell abgesichertes Leben in ihrem eigenen Haus in London. In einem Monat wird sie ihren Geburtstag feiern, aber sie legt nicht viel Wert auf den Besuch ihrer Familie. Von ihrem Mann ist sie getrennt, die beiden Kinder, Helen und Anthony, leben ihr eigenes Leben. Dorothy ist eine Frau um die sechzig, die nach außen hin freundlich wirkt, aber oft ziemlich verbittert das Gegenteil von dem denkt, was sie sagt. Ihre Tage verbringt sie mit Hausarbeit, Kino- oder Cafébesuchen und Reflexionen über die Vergangenheit.
Nach ihrem Studium hat sie recht schnell geheiratet, Kinder bekommen und sich der Familie nicht unbedingt mit Enthusiasmus gewidmet und im Architektur-Büro ihres Mannes etwas ausgeholfen. Eigentlich lag ihre Profession im Schreiben, immerhin hat sie für eine Geschichte sogar einen Preis erhalten. Dorothys Gedanken, die als innerer Monolog den Roman strukturieren, zeichnen ein immer deutlicheres Bild von ihr. Sie wirkt nicht gerade sympathisch, wenn sie über ihre Kinder nachdenkt.
„Wenn ich zu mir selbst ganz ehrlich war, dann waren meine beiden Kinder irgendwann zu Menschen geworden, die ich nicht verstand. Mein Interesse an ihnen blieb ein rein mütterliches, es wurde kein menschliches daraus.“
Helen hat ihren Traum verwirklicht und ist Schauspielerin geworden, allerdings keine sehr erfolgreiche. Anthony, dem die Mutter mehr Rückgrat und vor allem Stärke gewünscht hätte, ist nicht seiner Begabung, dem Zeichnen, gefolgt, er ist in die Wirtschaft gegangen, hat eine aus Dorothys Sicht „sauertöpfische“ Frau geheiratet, die drei Kinder bekommen hat. Ihre Enkel spielen für die Erzählerin kaum eine Rolle.
Als Dorothy sechs Jahre alt war, ist der Vater mit der Familie aus der Gegend um München nach England gezogen. Jetzt sind neue Mieter in die Dorothys Haus, sie vermietet die Souterrain-Wohnung, eingezogen und es stellt sich heraus, dass die hochschwangere Frau Martha aus Wien stammt. Beide Frauen unterhalten sich anfänglich in deutscher Sprache. Auch wenn Dorothy um Distanz bemüht ist, Martha findet durch ihren Charme und ihre offene Art einen Zugang zu der um Jahre älteren Frau. Der Sommer ist extrem heiß und Dorothy leidet unter der Hitze. Eigentlich wollte sie die Kisten auf dem Dachboden ausräumen. Als sie mit den Räumungsaktionen beginnt, findet sie alte Schulsachen der Kinder und eigenes, das wiederum zum Nachdenken angeregt. Sie kreist gedanklich um ihre Kinder. Angeblich hat Helen nun in New York nun doch ein erfolgversprechendes Filmangebot erhalten. Das erfährt die Mutter auf einer Party, auf der sie ihren Ex-Mann Edward trifft. Anthony hat Eheprobleme, auch das ist nie bis zur Mutter durchgedrungen.
Dorothy, deren Gedanken immer nur um sie selbst kreisen, spürt und das geschieht vehement und existentiell, angeschoben durch ein Gespräch mit Martha, dass sie unumgänglich ihr Leben gelebt hat. Plötzlich wird ihr bewusst, wie kurz die Zeit ist, die ihr vielleicht noch bleibt.
„Ich wollte unbedingt mein Leben noch einmal leben dürfen, von Anfang an. Gerne würde ich so vieles ganz anders machen. Ich würde, so gestand ich mir in seltener Offenheit, keine Kinder bekommen. Ich würde, ja, ich würde in diesem anderen Leben einen Mann halten können. Ich würde wegfahren und nicht mehr wiederkommen….“
nDorothy resümiert, dass sie alles hat irgendwie geschehen lassen. Ist eine Frau, die sich nur auf die Erziehung der Kinder konzentriert, ohne berufliche Lebensphasen nicht ein Auslaufmodell? Womit beschäftigen sich Frauen, wenn die Kinder sie nicht nicht mehr dringend in ihrem Leben brauchen? Warum fragt man sich, hat sie nicht geschrieben? Warum ist sie so gleichgültig? Sie trennt sich in einem hysterischen Rundumschlag von ihren Büchern, die ihr, empfohlen vom Feuilleton völlig sinnlos erscheinen. Sie macht eine Liste für alle überflüssigen, belastenden Dinge. Aber Dorothy spürt eigentlich im tiefsten Inneren, wie emotions- und empathielos sie sich gegenüber ihren Kindern und sogar ihren Freunden gegenüber verhalten hat. Kann man, wie Martha meint, noch etwas ändern?
Linda Benedikt führt den Leser ganz nah an ihre Hauptfigur heran und lässt ihn ihren Gedankenstrom verfolgen. Das kann beim Lesen zu sehr unterschiedlichen Reaktionen führen und möglicherweise auch zu einer Auseinandersetzung im besten Fall mit der eigenen Lebensplanung.
Schreibe einen Kommentar