Daniela Krien: Der Brand, Diogenes Verlag, Zürich 2021, 270 Seiten, €22,00, 978-3-257-07048-4
„Als er zurückkommt, steht er noch immer am selben Fleck. Hinter seinem Lächeln verbirgt sich etwas, und Rahel denkt, dass besonders in einer Ehe die Summe des Nichtgesagten die Summe des Gesagten bei weitem übertrifft.“
Das Dresdner Ehepaar Rahel und Peter Wunderlich kennen sich nun fast dreißig Jahre. Sie gehören zu der Generation, die „unbeschadet“ fast erwachsen nach der Wende ihr Leben beginnen konnte.
Früh geheiratet, früh Kinder bekommen, die bereits das Haus verlassen haben, stehen die beiden nun vor einer Ehe ohne viele Worte und Sex. Seit einem längerer Zeitraum gestaltet Peter, ein gefrusteter Germanistikprofessor, der wenig Sinn für den aufgesetzten Genderwahn aufbringen kann, seine Freizeitaktivitäten ohne Rahel. Sie als Psychologin mit eigener Praxis hat genug Arbeit, um darüber hinwegsehen zu können. Obgleich sie gekränkt ist, dass Peter keine Nähe mehr wünscht.
Als ihr, dem Covid19-Virus geschuldet, einsame Urlaub in einer bayerischen Almhütte wegen eines Brandes ausfallen muss, fahren die beiden in die Uckermark, um das Haus von Ruth zu hüten. Die strenge, immer disziplinierte Ruth ist eine enge Freundin von Rahels verstorbener Mutter Edith, die nach Ahrenshoop eilen musste, da ihr Mann Viktor dort nach einem Schlaganfall seine Reha antreten kann. Die Wunderlichs sollen sich nun um den bereits dem Verfall ausgesetzten Hof in der Uckermark widmen und Tiere und Garten hüten. Für Rahel waren Ruth und Victor immer der Fels in der Brandung, ein Gegenpol zum wechselhaften Leben mit Mutter Edith.
Aus Rahels Blick, in der personalen Perspektive geschrieben, entwickelt sich ein genaueres Bild von der Familie Wunderlich. Als Tochter Selma dann noch mit ihren wilden Kleinkindern anreist, spitzen sich die Konflikte langsam zu. Rahel ist wenig erfreut, dass ihre Tochter, die in larmoyanter Art und Weise sich immer in den Vordergrund spielt und in die Opferrolle flüchtet, mit den beiden Jungen anreist. Als Oma scheint sich Rahel kaum zu sehen, denn die Enkel haben keine Beziehung zu ihr. Selmas Ehemann hat zum Glück eine krisenfeste Arbeit, denn sie hat gleich nach der ersten Schwangerschaft ihr Studium an den Nagel gehängt. Nun hat sie sich in einen Musiker verliebt, der selbst schon vier Kinder von zwei Frauen hat, und Peter und Rahel schwant, dass sie bald mit Kindern und Koffern bei ihr vor der Tür stehen könnte. Ein Alptraum. Im Gegensatz zu Selma lebt Sohn Simon zielorientiert und sieht seine Zukunft in der Bundeswehr. Mit Mühe um Gelassenheit haben die Eltern den Berufsweg ihres Sohnes hingenommen, kaufen aber keine Zeitungen mehr, da sie den heutigen Journalismus oder was sich so nennt und die Weltgeschehnisse zeitweilig nicht ertragen können.
Nach und nach seziert Daniela Krien die überhöhten Erwartungen, die Oberflächlichkeit und die Animositäten der jungen Generation, die sich anmaßt, dem Osten Demokratiefeindlichkeit zu unterstellen und bedauert, wie Rahels Tochter nicht reich erben zu können.
Finden Ruth und Peter trotz aller Veränderungen in ihrer Beziehung übers Reden miteinander wieder zueinander, so beschäftigt Rahel weiterhin, wer ihr Vater eigentlich ist. Sie vermutet, nachdem sie die Zeichnungen von Viktor gesehen hat, dass er es sein könnte.
„Sie haben beide nicht genug geforscht. Nicht genug gefragt, als sie noch fragen konnten. Sie waren zu beschäftigt mit dem Wechsel des Systems, dem Umlernen, dem Lernen überhaupt, dem Geldverdienen, dem Kinderaufziehen, dem Reisen und Westlichwerden, dem Anpassen. Dann dem Innehalten, Stutzen und Verweigern und Sichbesinnen auf das eigene Denken, die eigene Erfahrung.“
Fein beobachtet Daniela Krien die schrittweise Entfremdung in einer langjährigen Ehe, in der sich auch der Humor und die Zweisamkeit aufgelöst haben. Doch es gibt Hoffnung und das zu lesen, tut der Seele gut. Ohne zu psychologisieren, breitet die Autorin die wechselvollen Geschichten der Familien aus und überlässt dem Leser, sich ein Urteil über die so lebendig beschriebenen Protagonisten zu bilden.