Adriaan van Dis: Das verborgene Leben meiner Mutter, Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas, Droemer Knaur Verlag, München 2016, 283 Seiten, €14,99, 978-3-26-28162-8
„Soviel Eis war ich nicht gewachsen, ich hätte sie am liebsten samt Rollator durchs Zimmer geprügelt, aber sie unterhielt sich schon wieder mit den Geranien.“
Wenn die Mutter nicht mit Blumen sprach, dann eher mit ihren Büchern. „Besser ein Buch zu Gast als ein Mensch“, war eine ihrer Lebensweisheiten. Abweisend, kalt, emotionslos hat sie der Sohn erlebt. Mit 19 Jahren hat er das Haus verlassen, ist nach Paris gezogen. Dann Jahrzehnte später, die Mutter hat zwei Töchter ohne Tränen begraben, eine ist im Ausland, wechselt die Mutter in einen Ruhesitz und beginnt den Sohn anzurufen, ihn zu bitten, zu dem Ort mit ihr, der über 85-Jährigen zu fahren, wo sie aufgewachsen ist. Langsam beginnt die Mutter, der Sohn beschreibt ihre Bauernhände, die so gar nicht zum Körper passen, von sich zu erzählen, und der Sohn macht sich Notizen. Sie spricht ihm den Anrufbeantworter voll. Doch lügt sie oder ist das, was sie berichtet, wirklich wahr?
Versessen auf esoterische Rituale, Reinkarnation und aus der Hand lesen, eine Tasche voller heiliger Steine und dann doch wieder so klare Analysen, ist van Dis‘ Mutter eine in sich komplizierte Person.
„Klar, gleichmütig, halsstarrig, noch immer geheimniskrämerisch und manipulierend. Aber in ihren Geschichten verwundbar.“
Mit ihrem ersten Mann, sie hat „über die Farbgrenze geheiratet“, geht sie in die niederländischen Kolonien. Sie kehrt nach dem Krieg und dreieinhalb Jahren Lager, darüber wird wenig gesprochen, nach Holland zurück. Adriaan, der Bastard, wird geboren, der erste Mann ist tot. Immer dreht sich in den Geschichten vieles um Geld.
Eine reiche Erbschaft beendet das Darben der Familie, am Ende wird nichts aber auch gar nichts übrig sein. Ein Grund für die Mutter zu sterben. Plötzlich ist ihr Malaysisch wieder da und sie erzählt von den Tagen in der Fremde, der Einsamkeit, der Feuchtigkeit, den Menschen dort, den Tieren und Pflanzen, dem Dschungel. Alle ihre Erinnerungen stecken in der Truhe, deren Inhalt niemand sehen darf. Immer mehr Zeit verbringt der Sohn bei der Mutter, nimmt ihr die Erlaubnis für sein Schreiben über sie ab. Kommt ihr nicht näher, spürt ihre Distanz. Und doch blättert sie ihr ganzes Leben vor ihm aus, verändert sich zunehmend und tritt in den Hungerstreik. Er bleibt der Sohn, der sich nach der vorbehaltlosen Liebe der Mutter sehnt und enttäuscht wird.
Die einzige Halbschwester, Saskia, reist an. Als Krankenschwester geht sie resolut mit der Mutter um, zwingt sie zum Waschen, säubert die Wohnung und begleitet ihr Sterben.
Sprachgewaltig ist dieses zutiefst persönliche Buch über Nähe und Distanz, tiefen Schmerz und Schweigen, Exotik und Realität. Eine nachgetragene Liebe, ohne Zweifel:
„Sie hat mich geformt, mehr als mein Vater.“
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