Aimee Molloy: Das Therapiezimmer, Aus dem Englischen von Katharina Naumann, Rowohlt Taschenbuch Verlag Polaris, Hamburg 2021, 334 Seiten, €14,00, 978-3-499-27634-7
„Es wird alles gut werden. Die Anrufe, die er nicht annimmt. Die Bank. Die Kreditkartenfirmen. Es muss ihnen nur noch eine Woche lang ausweichen, nur bis er Zugang zum Geld seines Vaters bekommt.“
Alles beginnt mit der Information, dass Dr. Sam Statler, neuer Therapeut in Chestnut Hill, verschwunden ist. Als der Sturm Gilda aufzog, ist er trotz Warnungen in sein Auto gestiegen und ward nicht mehr gesehen. Annie, seine Frau, ist auf der Suche nach ihm. Sie sind erst seit fünfzehn Wochen verheiratet und somit ist ein Untertauchen ihres Mannes für sie einfach nicht vorstellbar. Doch die unfähigen Polizisten sind da ganz anderer Meinung.
Vor drei Monaten sind Sam und Annie von New York in Sams Kindheitsort gezogen. Ein Grund ist die Ruhe und der andere die Demenz von Sams Mutter, die nun in Rushing Waters, einem Heim lebt. Bisher hat es Sam nicht fertiggebracht, seine aggressive, in ihrem Verhalten völlig enthemmte Mutter zu besuchen. Die Krankheit hat ihre Persönlichkeit völlig verändert, ihre Sinne verwirrt und ihr bereits tragisches Leben nun endgültig zerstört. Als Sam vierzehn Jahre alt war, hat der Vater die Familie für eine Unterwäschemodel verlassen, das auch noch eine reiche Erbin war. In langen Briefen hat der Vater um die Gunst des Sohnes gebeten, doch Sam konnte sich nie zu einem Telefonat durchringen. Nun hat der Vater der Mutter zwei Millionen Dollar vermacht und sie will diese unbedingt ihrem Sohn überweisen. Allerdings hat die schnell einsetzende Krankheit einen Strich durch diese Pläne gemacht, und doch hofft Sam auf ein gültiges Schreiben, um nun endlich das Konto der Mutter einzusehen, und sein Geld auf sein Konto zu überweisen. Immerhin hatte er auch durch den Umzug viele Ausgaben und seine Praxis, die er in einer edlen Villa im viktorianischen Stil erbaut, einrichten konnte, hat ebenfalls viele Dollar geschluckt. Nun sitzen die Kreditinstitute ihm im Nacken, denn 120 000 Dollar stehen aus. Zwar muss er für die Praxis keine Miete zahlen, was eigenartig ist, aber um so besser.
Aimee Molloy lässt die Lesenden lange im Ungewissen, wer eigentlich aus der Ich-Perspektive in diesem Thriller erzählt. Mal ist es Sam, dann wieder Annie und dann gibt es noch eine dritte Person. Dass es eindeutig um Vater – Sohn – oder auch Mutter – Sohn – Konflikte geht, wird klar, da Sam immerhin achtzehn Jahre über Kindheitstraumata gearbeitet hat. Dass er nicht erkennt, wie sehr die eigene Mutter ihm verdeutlichen wollte, dass sein Vater ihn liebt, indem sie ihm die Briefe geschrieben und von dem angeblichen Geld schwadroniert hat, zeigt, dass auch das Wissen der Psychotherapeuten begrenzt ist.
Als Sam nun verschwindet, denkt die Polizei natürlich, dass er wegen der Schulden untertauchen wollte.
Aber Sam lebt und wird in seiner eigenen Praxis festgehalten. Er konnte nicht ahnen, dass diese dritte Person ihn bei all seinen Therapiegesprächen belauscht hat. Sam hat nur eine Möglichkeit, um sich aus den Fängen des Mannes mit der narzisstischen Persönlichkeitsstörung mit absolutem Mangel an Empathie zu befreien, er muss hinter sein Geheimnis gelangen und erkennen, wer seine wahre biologische Mutter ist.
Therapiegespräche, Rollenspiele mit seiner eigenen Ehefrau und ein Mann, der helfen will, wobei eigentlich er Hilfe benötigt, darum dreht sich dieser spannende Thriller, der die Lesenden bis zum Ende in Atem hält. Natürlich steckt dahinter auch die Tatsache, was Menschen in allen sozialen Medien wie magisch anzieht: Aufmerksamkeitswahn und der voyeuristische Blick in die Leben anderer.