Margit Schreiner: Das menschliche Gleichgewicht, Schöffling & Co. Verlag, Köln 2015, 240 Seiten, €19,95, 978-3-89561-280-0

„ In jedem Paradies steckt immer schon der Schrecken.“

Vier Wochen im September auf einer einsamen Insel ohne Storm, ohne fließendes Wasser einfach nur die Seele baumeln lassen, das erhoffen sich die österreichische Erzählerin, eine Schriftstellerin, ihr Mann und die gemeinsamen Freunde. Logistisch muss vieles vorbereitet werden, denn die kleine kroatische zerklüftete Insel ist gut drei Stunden Bootsfahrt von der Zivilisation entfernt.

Endlich in aller Ruhe schreiben, das erhofft sich die Autorin von der Zeit. Keine Kinder reisen mit, die bespielt werden wollen und dann, wie aus heiterem Himmel steht die 20-jährige Sarah mit ihrem Hund Habibi vor der Tür und bittet um Unterkunft. Die Erzählerin kennt Sarah seit sie ein Kind ist, denn sie war mit ihrer Mutter Marieluise bekannt. Marieluise ist mit ihrem Mann Jakob jedoch vor Jahren nach Israel ausgewandert und sie wurden dort vor fünf Jahren ermordet. Die Erzählerin hatte geschrieben, aber nie eine Antwort erhalten. Auch Sarahs Halbbruder Daniel ist tot und ihr Bruder Noah hat sich das Leben in Israel vor gut sieben Monaten genommen. Die Erzählerin kann diese junge Frau nicht einfach auf die Zeit nach dem Urlaub vertrösten, sie nimmt sie mit. Josefine, die Freundin und Psychologin, zweifelt, ob das eine gute Idee ist, diese junge Frau mit ihren Traumata auf eine einsame Insel zu verfrachten. Medikamente werden gehortet.

Die Reise beginnt und dabei sind außer der Erzählerin, ihrem Mann Bruno, Sarah, Josefine, noch ihr Mann Willi und die jungen Frauen Maya und Filippa, die sich gleich zu Sarah hingezogen fühlen.
Die Insel jedoch bietet mit ihren zwei Fischerhütten kaum Ausweichmöglichkeiten. Wieder muss die Erzählerin auf ihren ruhigen Schreibplatz verzichten, denn dort wohnt nun Sarah. Zwischen dem Meer mit all seinen Schattierungen, den wild wachsenden Kräutern wie Rosmarin, Thymian oder Salbei gelangt der Erzählerin jedoch keine Entspannung. Sie wird von den Erinnerungen an Sarahs Eltern eingeholt, an die Zeit in Hamburg und Berlin.

Sarah, das spüren die anderen, trauert um ihren Bruder, mit dem sie eigentlich in Berlin neu anfangen wollte. Er, der Astronom werden wollte, hat sich, nachdem er Sarah eine SMS geschickt hat, von einem Observatorium gestürzt.
Sarahs Gemütsschwankungen beeinflussen die kleine Gruppe. Und dann legt Sarah ihr Krankentagebuch der Erzählerin aufs Bett. Sie beginnt zu lesen und erfährt, dass das Mädchen nach seinem fünfzehnten Lebensjahr, der Zeit als die Morde geschahen, mehrmals versucht hatte, sich umzubringen. In der Psychiatrie sucht sie nach der richtigen Therapie. Klar wird auch, wer die Eltern ermordet hat. Es war Daniel, einer der drogenabhängigen Söhne Jakobs aus erster Ehe. Seltsam kalt und selbstkontrolliert erinnert die Erzählerin das Paar Marieluise und Jakob. Er hasst die Deutschen und benimmt sich aber preußischer als jeder Deutscher. Auch Marieluise ist die Intellektuelle, die keine Gefühle den Kindern zeigt und mit ihren Phobien kämpft. Es muss sehr viel Streit in Israel gegeben haben, zumal Jakob immer religiöser wurde und Marieluise sogar konvertierte. Bei ihrem letzten Telefonat mit der Erzählerin berichtet sie, das sie nach Deutschland zurückkehren will.

Einerseits erzählt die gut Sechzigjährige nun vom Inselleben und seinen Bewohnern und sie zitiert aus dem Tagebuch Sarahs. Es wird viel getrunken und die Emotionen kochen ab und zu hoch, wenn einer glaubt, er müsse mehr tun als die anderen. Alles gerät zwischen den Personen zeitweilig aus dem Gleichgewicht, denn die Urlaubsharmonie stellt sich nicht so richtig ein. Bruno offenbart, dass er so gar nicht am Zusammensein interessiert ist. Josefine kritisiert, dass die Erzählerin Sarah zu nah kommt und Distanz suchen sollte.

Als Sarah dann auf Abstand geht, entstehen neue Konflikte.

Margit Schreiner erzählt ihre doppelbödige Geschichte in eleganten und weich schwingenden Satzkonstruktionen. Sie beschreibt die unglaublich beeindruckende zeitlose Inselnatur und setzt die menschliche Tragödie dazu ins Verhältnis. Die Erzählerin fühlt sich durch Sarahs Geschichte herausgefordert. Aber will Sarah das überhaupt? Letztendlich ist Sarahs Tagebuch genau der Erzählstoff, den die Schreibende benötigt.

„Mein einziges Talent war von jeher das Erkennen von Mustern im Alltäglichen, die Kaffeeflecken auf der weißen Sonntagstischdecke und die Milchkännchen und Zuckerdose, die meine Mutter daraufgestellt hatte, um sie zu verdecken.“
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