Susanne Gregor: Das letzte rote Jahr, Frankfurter Verlagsanstalt, Franfurt a.Main 2019, 224 Seiten, €22,00 , 978-3-627-00263-3



„…. , genauso wie ich Ritas inneren Rückzug fürchtete und Slavkas Gefühle für Genosse Blaník, am liebsten hätte ich uns drei in eine Zeitkapsel gesperrt, in der wir für immer die Kinder blieben, die zusammen in die Schule gingen und auf dem Spielplatz Handstand übten und denen es nichts ausmachte, wenn ihnen dabei der Rock über den Kopf fiel.“

Rita, Slavka und die Erzählerin Miša sind alle im gleichförmigen Plattenbau in der kleinen tschechischen Stadt Žilina aufgewachsen. Sie trafen sich in ihren Kinderzimmern, spielten zusammen und beobachteten die Erwachsenen, die bei Alkohol und Kuchen ihren Unmut über den unfähigen Staat, seine Repressalien und der Realität des Mangels austauschen. Die gewohnten Reden von Frieden und Fortschritt interessierten niemanden mehr, obwohl die Besuche des Parteisekretärs vom Vater jedesmal die Familie beunruhigte. Auch Rita läuft noch parteigläubig zu den Veranstaltungen der Pioniere. Slavka perfektioniert ihr Talent als Gymnastin und Miša liest ein Buch nach dem anderen, denn sie sucht nach Antworten, die ihr die Erwachsenen nicht geben können. Faszinierend ist ihre Begeisterung für Christa Wolfs Roman „Der geteilte Himmel“, den sie mehrmals liest. Immer wieder versucht ihr Vater sie für technische Berufe zu begeistern und zerrt sie an die frische Luft.

Doch nun sind die Mädchen vierzehn Jahre alt und es ist das Jahr 1989. Alles scheint sich zu verändern, nicht nur die regide Politik der Ostblockstaaten gerät ins Wanken, auch die Freundschaft und der Zusammenhalt der drei ist nicht mehr so stabil wie noch vor Jahren. Rita entfernt sich von Miša bis diese erkennt, dass Rita ein intimes Verhältnis mit ihrem schweigsamen und ziemlich arroganten Bruder Alan hat, der ein Studium beginnen soll. Ihr Vater, ein Arzt, versinkt immer mehr in Resignation, trinkt und schlägt die Tochter. Slavka schwärmt für ihren Geschichtslehrer und auch hier scheint sich ein Verhältnis anzubahnen.
Miša vergräbt sich immer mehr in ihren Büchern und beobachtet aus der Ich-Perspektive das Geschehen. Die neue Errungenschaft des Vaters, eine Satellitenschüssel, öffnet ein Tor zur Welt, auch wenn die meisten Leute im Wohngebiet nur die bunte Westwerbung sehen wollen. Reisen in den Westen finden für die Väter der Mädchen, außer Slavkas, er hat bereits illegal das Land verlassen, statt, sind aber auch immer Anlass zu Irritationen und Plänen. So sollen Miša und ihr Bruder endlich Deutsch lernen. Slavka wird zum Jahresende mit Schwedisch beginnen. Die einzige in der Familie, die sich von all dem nicht beirren lässt, ist Oma Aniko. Sie kommt alle paar Monate, wohnt bei Miša im Zimmer und schmeißt den Haushalt. Sie putzt, räumt alles um und macht die Wäsche. Mišas Mutter lehnt alles Weibliche ab, sie erwartet auch von Miša, dass sie nur Hosen trägt und die Haare kurz trägt. Als Miša zum ersten Mal einen Jungen nach Hause mitbringt, scheint dies die Katastrophe zu sein. Immerhin hat sie ihn schon geküsst, aber das darf die Mutter auch nicht wissen. Die Eltern verbergen vieles vor dem Mädchen, immer mit dem Hinweis auf ihr Alter. Slavka sieht durch einen Sportunfall ihre Karriere zerstört und Miša bekommt mit, dass ihr Bruder Alan und Rita wirklich gemeinsam verschwinden wollen. Die Grenze in Ungarn ist nach Österreich schon längst offen und eine Welt ist im Untergang.

Susanne Gregor zeichnet in ihrem Roman ein gesellschaftlich-politisches Abbild des Jahres 1989 verbunden mit den persönlichen Geschehnissen in drei Familien. Deren innige Gemeinschaft war nicht sozialistisch vorgeschrieben und hat doch stattgefunden. Zusammenbrechen wird sie im Laufe des Jahres. Ohne moralische Wertungen beschreibt die junge Miša überzeugend das letzte Jahr der Kindheit und das letzte Jahr im Sozialismus.

Die Autorin wurde 1981 geboren, noch jenseits des Eisernen Vorhangs in der heutigen Slowakei. Ihre Familie übersiedelte kurz nach der Wende nach Österreich, und sie wuchs dort auf.