Danielle McLaughlin: Die Kunst des Fallens, Aus dem Englischen von Silvia Morawetz, Luchterhand Literaturverlag, München 2022, 368 Seiten, €22,00, 978-3-630-87493-7
„Nessa legte den Zeigefinger auf die Vertiefung in der Mitte des kalkweißen Bauchs. Eine Kuhle hatte sich gebildet, an der der bereits von Wasser in Mitleidenschaft gezogene Gips unter den Händen der Pilger noch weiter erodiert war. Nessa staunte über diese Menschen, die nicht gekommen waren, um Robert Lockes Geist auf sich wirken zu lassen, sondern um Kindersegen zu erflehen.“
Der Künstler Robert Locke ist vor zwanzig Jahren gestorben. Hinterlassen hat er eine besondere Statue, die eine Frau, die Venus, allerdings ohne Gesicht zeigt. Besonders Frauen berührt dieses Kunstwerk. Nun soll es in die Elmes Gallery in West Cork, in der Nessa McCormack als Kuratorin arbeitet, überführt werden. Lockes Atelier soll ebenfalls aufgenommen werden. Alles ist bereits akribisch von Nessa vorbereitet. Sie ist es auch, die die Interviews mit der hochbetagten Witwe Eleanor und deren ziemlich unfreundlichen Tochter Loretta führt. Nessa hatte Robert Locke noch in der Zeit ihres Studiums kennengelernt und später alles über ihn gelesen und zusammengetragen.
Als die Kunstwissenschaftlerin dann einen Vortrag in der Galerie hält, gerät sie in eine Gespräch mit Melanie Doerr. Diese behauptet, sie sei die Muse und Assistentin von Robert Locke gewesen und sie habe einen bedeutenden Anteil an der Fertigstellung der Venus – Statue. Aus diesem Grund müsse auch ihr Name im Zusammenhang mit Lockes wohl bekanntestem Werk genannt werden. Ärgerlich ist, dass Lockes Witwe behauptet, dass gerade dieses Werk ihres Mannes das einzige ist, bei dem sie sozusagen körperlich das Vorbild war.
Nessa sitzt nun zweifelnd zwischen allen Stühlen, denn sie braucht das Wohlwollen der Erben, kann aber auch nicht ignorieren, was Melanie Doerr behauptet. Aus den Aufzeichnungen von Locke geht keine Mitarbeit einer Melanie hervor und Loretta behauptet steif und fest, diese Frau nicht zu kennen, obwohl zu Lockes Lebzeiten das Haus ständig mit Anhängern und Studentinnen gefüllt war. Später wird sich diese Aussage als Lüge erweisen. Melanie Doerr beginnt die Presse einzuschalten, und Nessa mit ihren Forderungen zu belagern.
Nessa jedoch hat nicht nur dieses berufliche Problem am Hals. Ihr Mann Philip hatte ausgerechnet eine Affäre mit der Mutter der besten Freundin seiner sechzehnjährigen Tochter. Außerdem hat er falsche Investitionen getätigt und nun sitzt die Familie mit einem Riesenberg Schulden da. Als Architekt kann er diesen kaum schnell abtragen. Und dann läuft Nessa auch noch ihrer Collegefreundin Katherine Ferriter über den Weg und die Vergangenheit holt sie beunruhigend ein.
Katherine hat den einundzwanzigjährigen Luke und seinen Vater Stuart eingeladen, dessen Mutter Amy ebenfalls eine Freundin aus Collegetagen war. Sie hatte sich nach einem Streit mit Nessa und anderen Freunden das Leben genommen.
In Rückblenden erzählt Danielle McLaughlin nun von der Zeit mit der attraktiven, aber offenbar vom Leben überforderten Amy. Zu all den Konflikten und Schuldgefühlen kommt noch, dass Nessa mit Amys Mann Stuart ein Verhältnis hatte. Durch die Begegnung mit Luke und Stuart wird nun alles hochgespült und Luke gelangt auch noch an die Tagebücher seiner Mutter und beginnt mit Nessa einen Streit, nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch ihr Verhalten Melanie Doerrs gegenüber, die Luke in ihrem Anliegen unterstützen will. Nessas Tochter freundet sich mit Luke an und Nessa hat das Gefühl, dass sie bei allem die Kontrolle, ob im Privaten oder Beruflichen, verliert.
Zumal ihr Idol Robert Locke immer mehr von seinem Podest gestoßen wird. Versuchen Ehefrau und Tochter, auch um des Nachlasses und Geldes willen, sein Ansehen zu schützen, Melanie Doerrs letztendliche Beweise schaden ihm und der Familie immens.
Doch warum soll ein Künstler nicht fehlbarer sein als alle Normalsterblichen in diesem Roman?
Warum soll er nicht lügen, Schuldgefühle, wenn er sie denn hätte, verdrängen und einfach weitermachen?
Danielle McLaughlin lässt die Lesenden alles aus Nessas Sicht betrachten. Alle Konflikte werden in der Prosa der irischen Autorin allerdings nicht auserzählt. Hinsichtlich des Innenlebens ihrer Figuren bleibt sie verschwiegen, aber die feinnervigen Beschreibungen der Außenwelt und des Verhaltens werden lesbar für Psychisches. Die Romanhandlung, die alle möglichen Begegnungen mit den dunklen Seiten des Lebens schildert, bietet durch die präzise und atmosphärische Prosa dennoch einen großen Lesegenuss.