Dani Shapiro: Leuchtfeuer, Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Carl Hanser Verlag, hanserblau, 288 Seiten, €23,00, 978-3-446-27935-3
„Sarah bestellte ein Glas Wein, dann ein zweites, ein drittes. Theo aß seine Linguine und verputzte dann ihr kaum angerührtes Parmigiana. Der Geist von Misty Zimmerman saß mit ihnen am Tisch, so klar und deutlich, als hätte sie einen Stuhl herangezogen.“
Die Geschwister Sarah, siebzehn Jahre alt und Theo, zwei Jahre jünger, schnappen sich in Avalon, einem kleinen Ort im Norden von New York City, vor ihrem eigenen Haus in der Division Street Nr. 18 das Auto ihrer Mutter. Der pummelige Theo möchte zu gern seine Mitschülerin Misty Zimmerman beeindrucken, Sarah hat viel zu viel getrunken. Sie wirft ihm den Schlüssel zu und Theo verursacht einen Unfall, in dessen Folge Misty sterben wird. Ben Wilf, dem Vater von Sarah und Theo und anerkannten Arzt, unterläuft dann auch noch ein Fehler bei der Bergung der Verletzten. Eine Lüge folgt der anderen, denn Sarah behauptet, sie sei gefahren. Einem Trauma gleich schwebt dieser Abend über der Familie und wird, so unglaublich das klingen mag, von Ben, Mutter Mimi, Theo und Sarah nie angesprochen. Dieses Schweigen zerstört jedes Familienmitglied auf die eine oder andere Weise.
Zeitversetzt, nicht chronologisch und auktorial verfolgt die amerikanische Autorin Dani Shapiro in einem unaufgeregten Erzählton nun den Werdegang der Familie und taucht in die Jahre 1985, dem Jahr des Unfalls und in die Jahre 1999, 2010 und 2020 immer wieder im Wechsel ein.
In der Nachbarschaft der Wilfs wohnt die Familie Shenkman. Ihren Sohn Waldo wird Ben Wilf zur Welt bringen. Seltsamerweise ergeben sich auch hier nie Gespräche zwischen den Shenkmans und den Wilfs. Und auch Waldo wird nichts von den Umständen seiner Hausgeburt erzählt. Um so tragischer dann der tiefe Konflikt zwischen Waldos stets heftig aufbrausendem Vater und dem stillen Jungen, der so gar nicht den idealen Vorstellungen des Vaters entspricht und am liebsten in der Nacht in den Himmel schaut. Waldo ist nicht sportlich und er interessiert sich für das Weltall und die Galaxien.
In unterschiedlichen Szenen verknüpfen sich die Schicksale dieser beiden Familien, an dessen Ende sogar eine tiefe Freundschaft zwischen Ben Wilf und dem erwachsenen Waldo, dem Professor für Astrophysik, stehen wird. In unterschiedlichen Erzählsträngen erfahren die Lesenden natürlich auch, wie das Leben von Sarah und Theo verlaufen ist. Und auch hier breitet sich weiterhin ein Schweigen aus. Theo verlässt die USA und hält sich lang in Patagonien auf, erlernt das Kochen, kehrt zurück und wird erfolgreicher Restaurantbetreiber in Brooklyn. Auch ihn fragt niemand, wie es ihm ergangen ist und warum er fortgegangen und wiedergekommen ist. Die Familie findet sich nur zusammen, wenn Katastrophen anstehen, u.a. ist die demente Mimi, die Mutter von Sarah und Theo im Dezember aus dem teuer bezahlten Heim weggelaufen.
Sarah arbeitet als erfolgreiche Produzentin in Los Angeles, hat Zwillinge und einen Mann, der allerdings in seinem Job als Drehbuchautor nicht Fuß fassen kann. Allerdings scheint Sarah immer mehr dem Alkohol zuzusprechen, und sich auch in Affären zu verlieren.
Es ist der gute Mittelstand, der beruflich etabliert, finanziell problemlos über die Runden kommt und doch nicht richtig glücklich werden kann. Schuldgefühle und Schweigsamkeit in den Familien vergiftet die einzelnen Leben, die oberflächlich betrachtet gut verlaufen, aber beim genauen Hinsehen eher in Traurigkeit verharren.
Ohne einen melancholischen Ton anzuschlagen, entwirft Dani Shapiro eine Geschichte voller Emotionen, die sich nicht entfalten dürfen und Hoffnung, denn die Beteiligten an dem Unfall müssen sich ihren Geheimnissen, ihrem Schweigen stellen und jeder für sich einen Ausweg finden.
„ Das Schweigen war eindeutig ein Fehler gewesen. Irgendwo – in einer Fernsehdokumentation? – hat Ben gehört, das Carl Jung Geheimnisse mal als psychisches Gift beschrieben hat. Genauso fühlt es sich an: ein Gift, dass sich in ihrer aller Leben schlich, vor allem in Sarahs und Theos. Gott, sie waren damals doch noch Kinder.“