Cara Hunter: Murder in the Family, Aus dem Englischen von Anne Rudelt und Michaela Link, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2024, 476 Seiten, €14,00, 978-3-423-22065-1


„J.J. NORTON
Sie geben also zu, dass Sie schon damals wussten,
dass Eric Fulton und Luke Ryder ein und dieselbe
Person waren.

BILL SERAFINI
Ja, das wusste ich.

Das Team reagiert mit verschiedenen Varianten von Wut
und Verärgerung. Bill hebt die Hände.“

Vor zwanzig Jahren geschah im allerbesten wie gut gesicherten Villenviertel von London ein Mord. Der vierundzwanzigjährige Luke Ryder, so glaubten alle, war das Opfer. Nun im Januar 2023 soll dieser nie aufgeklärte Fall von einem Expertenteam erneut für eine siebenteilige Serie von Showrunner in der beliebten Reihe „Infamous“ unter die Lupe genommen werden. Die Regie führt Guy Howard, der Stiefsohn von Luke Ryder. Er will unbedingt der Wahrheit auf den Grund gehen. Als Luke Ryder im Garten der Villa nach einem ominösen Anruf brutal erschlagen wurde, war Guy zehn Jahre alt. Lukes Ehefrau Caroline war zu diesem Zeitpunkt Gast auf einer Party und die Stieftöchter Maura und Amelie im Kino. Maura wird Luke dann bei ihrer Rückkehr entdecken.

Cara Hunter präsentiert die Wiederaufnahme dieses Cold Case nicht in einem Fließtext, sondern sie wählt die Form eines Drehbuches, in dem sie, mit Regieanweisungen ausgestattet, jeden sprechen lässt. Sie reichert die Pausen zwischen den Serienteilen mit Zusatzmaterial an, u.a. mit Kommentaren auf Sozial Media, Textnachrichten zwischen Maura und Amelie, Internetwebsiten, E-Mails zwischen den Filmemachern, Artikeln aus Zeitschriften über die Serie, genaue Lebensläufe der Experten und Infos über den Drehplan. Neben den Experten, einem Journalisten, einem Anwalt, einer Psychologin und Polizisten aus den USA und Wales, hat auch der Produzent so einiges zu berichten. Zeugen kommen zu Wort, Bekannte und Freunde der Familie, aber auch Menschen, die tief aus der Vergangenheit in irgendeinem Zusammenhang mit dem Lebensweg des Toten stehen. Intensive Recherchearbeit in Australien, Kanada, Griechenland aber auch den USA werden dokumentiert.

Wer diese True Crime – Formate kennt, weiß sicher, wie die Dramaturgie der Serien funktioniert. Ohne Cliffhanger verpufft die ganze Geschichte und wenn nur Bekanntes nochmals durchgekaut wird, verliert das Publikum das Interesse. Dieser Cold Case hat mehr zu bieten, als man sich zu Beginn der Handlung vorstellen kann.
Schnell ist die Geschichte der Familie Howard erzählt. Andrew Howard heiratet in zweiter Ehe das junge Au-Pair Mädchen Caroline. Aus erster Ehe stammt sein Sohn Rupert, der allerdings bei der Familie der Mutter, die durch einen Autounfall starb, aufwächst. Caroline bekommt drei Kinder. Als Andrew stirbt ist Guy sechs Jahre alt. Nach dem Trauerjahr ehelicht Caroline den vierzehn Jahre jüngeren Luke Ryder, den sie als Freund ihres Stiefsohnes Rupert kennenlernt. Die Kinder lehnen den neuen Mann an der Seite der Mutter ab, zeigen ihre Antipathie auch durch aggressives Verhalten. Natürlich mutmaßt jeder, dass Luke die vermögende Caroline nur wegen ihres Geldes geheiratet hat. Wobei er angeblich auch auf ein Erbe wartet. Minutiös werden nun alle Lebenswege der Protagonisten auseinandergenommen, denn Luke Ryder stammt ja angeblich aus Australien und ist dann nach dem Tod der Eltern durch die Welt gereist. Um die Geschichte rund um den schrecklichen Mord anzuheizen, wird schnell klar, dass Luke Ryder nicht der ist, für den er sich ausgibt. Luke Ryder ist bei einem Anschlag in Beirut ums Leben gekommen. Seine Identität hat angeblich ein zehn Jahre älterer Amerikaner aus Alabama angenommen und auch dies entspricht nicht der Wirklichkeit. Nach und nach stellt sich auch noch heraus, dass jeder der Experten irgendetwas mit diesem Mord und der Familie zu tun hat. Gewollt steigert sich die Spannung von Serienteil zu Serienteil und das ist wohlweislich vom Produzenten genau geplant. Guy als Regisseur wird von den Ergebnissen, die die Experten zusammentragen, sozusagen überrannt. Er versteht jetzt erst, dass viele Informationen schon längst vorher bekannt waren, aber nun an die Öffentlichkeit kommen.
Und natürlich wird dieser Fall gelöst, hinterlässt allerdings einen bitteren Geschmack.

Identitätendiebstahl, Betrug, Eifersucht, Geldgier, Affären, Rassismus, Verrat, Lügen und falsche Vermutungen, all dies verpackt die englische Autorin Cara Hunter in ihrem absolut spannenden Cold-Case-Krimi, in dem allerdings auch die unlauteren Mittel der Fernsehbranche offen gelegt werden und jeder am Ende Farben bekennen muss.