Anna Enquist: Die Seilspringerin, Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers, Luchterhand Verlag, München 2024, 304 Seiten, €24,00, 978-3-630-87722-8
„All die Mühe, das Streben nach Perfektion, als gehe es um etwas Wichtiges, als wäre es wesentlich. Das ist nicht so. Svea war nicht gekommen. Nein, die blieb bei ihren Kindern, die hatte etwas Essenzielleres zu tun. Vierunddreißig bin ich, dachte Alice, und ich habe Erfolg. Sie blinzelte verzweifelt mit den Augenlidern, um die Tränen zurückzuhalten.“
Alice Augustus ist eine erfolgreiche Komponistin, verheiratet mit Mark van der Meulen, einem Finanzjuristen und sie hat eine gute Freundin und ehemalige Kommilitonin, Svea. Wenn Alice Inspirationen benötigt oder einfach nur sich gut fühlen möchte, dann hört sie Musik von Joseph Haydn, liest seine Briefe oder seine Biografie. Für sie ist er das musikalische Vorbild, der Fels in der Brandung. Zwischen den Arbeiten an neuen Kompositionen, ein großer Auftrag für ein Orchester Jubiläum wurde erteilt und Werbeclips sind immer angefragt, die gut bezahlt werden, hofft Alice endlich schwanger zu werden. Hat sich Svea mit Jens bereits früh für Familie und Kinder entschieden, so verlief Alices Leben auch als berufliche Außenseiterin ganz anders.
In Rückblenden erinnert sich Alice an ihre unterkühlte Mutter, ihren gleichgültigen Vater und ihren auch einsamen Weg zur Komponistin. Immerhin war sie als Frau die erste in der Kompositionsklasse vom allseits verehrten Lehrer Duk van Dijk.
Anna Enquist erzählt Alices Leben im Wechsel von Gegenwart und Rückblenden. So schnell wie möglich hat sie ihre Provinzstadt und die ungeliebte, oft aggressive Mutter verlassen. Klaas Riedstra, ein Trompeter, ist ihre erste kurze Liebe. Eine längere Beziehung geht sie nach dem Abschluss des Studiums mit ihrem um vierzig Jahre älteren Lehrer van Dijk ein. Dieser trennt sich von Alice als sie schwanger ist. Schockt ihn vielleicht doch der große Altersunterschied, so kann es auch die Angst vor der Vaterschaft sein, denn zu seinem erwachsenen Sohn hat van Dijk ein eher angespanntes Verhältnis. Den geplanten Abtreibungstermin muss Alice nicht antreten, da sie das Kind bei einer Fehlgeburt verliert.
Als Alice ihren derzeitigen Mann Mark kennenlernt, seine Firma hat eine Werbe – Komposition in Auftrag gegeben, braucht es kaum Worte, um beider Liebe auf den ersten Blick zu beschreiben. Für Mark ist auch ein Leben ohne Kind vorstellbar. Für Alice wird die Mutterschaft zur Obsession, als wäre für diese kompetente Frau ein Leben ohne Kind kaum etwas Wert. Die Untersuchungen und Behandlungen in der Fertilitätsklinik geben Hoffnung und lassen Alice beim Einsetzen der Menstruation in tiefste, depressive Abgründe sinken.
Alices Leben ist für die Komponistin, bei der der Rhythmus einfach stimmen muss, völlig aus dem Takt geraten. Je erfolgreicher und enthusiastischer sie sich mit ihren Kompositionen auseinandersetzt, Kraft investiert und internationalen Erfolg einfährt, um so mehr scheint ihr Privatleben zu verlieren.
Als sie dann auf ihre erste Liebe, Klaas lebt mit Familie in Kanada, per Zufall trifft, scheint sich alles zu verändern.
Eindringlich und sprachlich anspruchsvoll erzählt die bekannte niederländische Autorin Anna Enquist vom Schicksal einer Frau, die gewohnt ist, ihre Ziele auch unter schwierigsten Verhältnissen zu erreichen. Doch nicht alles im Leben ist kontrollierbar.