Anja Jonuleit: Kaiserwald, Penguin Verlag, München 2024, 400 Seiten, €18,00, 978-3-328-60333-7
„An anderen, weniger guten Tagen konnte nichts mich trösten, wenn in meinem Kopf die immer gleichen Fragen tanzten: Wie hatte meine Mutter einfach gehen können, warum und wohin war sie gegangen – und mehr als alles: Wie hatte sie mich nur allein lassen können?“
Um es gleich vorauszuschicken, und das ist auch eine Kritik am Verlag, dieser Roman hätte eigentlich „Kaiserwald I“ heißen müssen, denn die sogenannte Dilogie umfasst zwei Romane. Der zweite Teil erscheint im Herbst 2024 und heißt „Sonnenwende“.
Somit werden in der Handlung des ersten Teils ausführlichst die Konflikte zwischen den einzelnen Figuren angelegt und die biografischen Hintergründe in Gedankenströmen und Erinnerungen reflektiert.
Zeitlich versetzt und multiperspektivisch erzählt Anja Jonuleit von einem schweren Verlust. Rebecca verlässt 1998, ohne ein Wort zu sagen, ihre neunjährige Tochter Penelope in Riga. Ein Trauma, dass Penelope, die sich mit ihren Schuldgefühlen herumschlägt, bis ins Erwachsenenalter nicht verwinden kann.
Im Wechsel kommen nun drei Frauen zu Wort. Penelope wird von ihrer Kindheit und Jugend bei den Großeltern im Allgäu berichten und sie wird im Laufe der Zeit erfahren, wie exzellent ihr Gedächtnis ist. Mathilda, eine Frau, die sich eine Fake – Identität zugelegt hat, verfolgt 2023 aufgrund eines anonymen Briefes, der inhaltlich in diesem Band nie zur Sprache kommt, den Sohn einer adligen, sehr wohlhabenden Diplomatenfamilie, die zwei Jahre in Riga gelebt hat. Falk von Prokhoff verliebt sich unsterblich in Mathilda und heiratet sie sogar. Klar ist, dass Mathilda eine Ausbildung als Gebirgsjägerin absolvierte und nun die Armee verlassen hat. Was sie in der Familie der Prokhoffs sucht, bleibt lang unklar. Warum Falk sie ohne große Feier in Windeseile ehelichen will, wird auch erst am Ende angedeutet. Unverständlich bleibt, warum die beiden sich verlieben, obwohl keiner den anderen wirklich kennenlernt und jeder seine Geheimnisse für sich behält. Absolut eigenartig und kaum nachvollziehbar ist, dass sie sich als Paar sexuell nie näher kommen. Die dritte Frau, die von sich erzählt, ist Rebecca, die Mutter von Penelope. 1997 lebt sie mit ihrem Mann Robert und ihrer Tochter in Riga. Beide arbeiten als Lehrer an einer deutschen Schule, doch ihre Ehe ist unglücklich. Robert hat seine Affären und auch Rebecca lässt sich auf den Vater einer Schülerin ein. Es ist die künstlerisch begabte Xenia, die ihre Lehrerin verehrt und sie sogar zu ihrer Geburtstagsparty einlädt, auf der sie den charmanten Georg und die unterkühlte Claire von Prokhoff kennenlernt. Diese leben in einem stillen Villenviertel mit Namen Kaiserwald. „Kaiserwald“ ist auch der Titel der Graphic Novel, die die erwachsenen Xenia, die längst ihrer Familie den Rücken gekehrt hat und in den USA lebt, veröffentlichen wird.
Nach und nach setzt sich einem Puzzle gleich ein Bild von dysfunktionalen Familien zusammen, die nach außen hin den Schein wahren, nach innen jedoch in einem Gespinst von Lügen leben.
Ohne die Spannung auf den zweiten Teil nehmen zu wollen, scheint im ersten doch einiges zu konstruiert. Warum scheint jemand Falk ermorden zu wollen? Was ist mit der Toten, die angeblich im Hintergrund der Geschichte wabert? Ist es die fünfzehnjährige Freundin von Xenia, Alise, die angeblich auch ein Verhältnis mit Georg von Prohoff hatte? Was beinhaltet der anonyme Brief? Und wer hat Penelope angerufen und ihr gesagt, dass sie keine Schuld am Verschwinden der Mutter hat?
Und welches faschistisches Gedankengut verbirgt sich hinter dem Pfadfinderlager und der Stiftung Dreilinden der von Prokhoffs?
Spannend liest sich dieser Roman, der zeitweilig, wenn es um die Liebesgeschichten geht, eher ins Triviale abgleitet, auf jeden Fall. Am Ende des ersten Teils klärt sich jedenfalls die Identität von Mathilde, deren Geheimnis die Lesenden vielleicht doch schon geahnt haben.
Trotz aller Kritik sollte man den zweiten Band nicht verpassen.