Tatiana de Rosnay: Célestine und die kleinen Wunder von Paris, Aus dem Französischen von Nathalie Lemmens, C.Bertelsmann Verlag, München 2024, 320 Seiten, €18.00, 978-3-570-10448-4
„ Ohne ihn zu beachten, wühlt sie in ihrem Korb nach einer Zigarette. Gerührt betrachtet Martin ihre magere Wirbelsäule, die spitzen Ellbogen, das von einem fadenscheinigen schwarzen Samtband zusammengehaltene stumpfe Haar.“
Wie oft laufen wir gleichgültig oder mit Vorurteilen behaftet an Männern oder Frauen vorbei, die auf dem Boden kauern und um Geld bitten? Wir sind in der U- oder S-Bahn von Menschen genervt, wenn diese etwas von sich erzählen und betteln. Auch der achtzehnjährige Martin Dujeu hat die alte, obdachlose Frau, die in seiner Straße die Leute manchmal auch aggressiv beschimpft, wenn sie ihr kein Geld geben, ignoriert. Leicht verträumt in seinen eigenen Welten vertieft, groß und schlaksig, oft allein oder in Begleitung seines Beagles läuft der blonde Martin mit seiner dicken Brille durch den von Reichen bewohnten Distrikt von Paris. Bereits zwei Mal ist er durchs Abitur gefallen, denn er, der sich so zu den Romanen von Émile Zola hingezogen fühlt, schreibt einen Roman und dieser benötigt all seine Zeit. Martins Vater, Victor Dujeu, arbeitet als Anwalt, wechselt oft seine Frauen und hat jetzt sogar vor, die manipulative Alexandra zu heiraten. Die Schweigsamkeit und Abwesenheit des Sohnes, der ja nun eigentlich aus der Pubertät heraus sein müsste, nervt ihn. Martins schwedische Mutter Kerstin ist bei einem Flugzeugabsturz kurz vor Weihnachten ums Leben gekommen, da war der Junge gerade mal zwei Jahre alt. Ihre Leiche wurde nie gefunden.
Wie nun die beiden völlig unterschiedlichen Außenseiter Martin und Célestine du Bac, ( so ihr ausgedachter Name, angelehnt an die Rue du Bac ) auch Titine genannt zueinander finden, liest sich äußerst berührend. Martin sieht die auffällige, völlig verschmutzte Frau zum ersten Mal wirklich, als sie schreibend auf dem Boden hockt. Ihn interessiert, was sie wohl zu Papier bringt. Es stört ihn nicht, dass sein einziger Freund Oscar, der sich nur für Frauen interessiert, Titine als wunderliche Hexe abtut. Je mehr Martin mit Titine ins Gespräch kommt, um so mehr sorgt sich der junge Mann um die Gesundheit der alten Frau. Vielleicht verkehren sich in seinem Kopf auch die realistische Literatur von Zola mit der harten Wirklichkeit des Alltags in Paris. Natürlich bemerkt Martin, dass sich Titine für seine Geldscheine Alkohol kauft. Martin versorgt Titine nicht nur mit Geld, er sucht auch nach abgelegten Sachen von seinem Vater, denn Titine stört das nicht, wenn es kalt wird. Ihr erzählt er neben Oscar von seinem Roman, in dem der Geist Zolas eine Rolle spielt. Zu gern möchte Martin lesen, was Titine in ihrem Tagebuch schreibt und sie ist neugierig auf seinen Roman.
Beide tauschen ihre Schriftstücke aus und nun gewinnen die Lesenden Einblick in Titines trauriges Leben. Natürlich bleibt ein Konfrontation zwischen Vater und Sohn nicht aus, als Martin die alte Frau in seine Wohnung zum Duschen und Schlafen einlädt. Auch wenn Martin auf einer Privatschule nochmals die Chance aufs Abitur erhält, scheint ihn das kaum zu interessieren. Die Beziehung zu seinem Vater zerbricht und beide schweigen sich nur noch an, denn Martin hatte sich nach dem Rausschmiss von Titine dazu entschlossen, mit ihr die Nacht auf dem eiskalten Boden zu verbringen.
Hat Martin bereits längst das Tagebuch zurückgegeben, so hat Titine seinen Roman einem bekannten Verleger, der die obdachlose Frau nie ignoriert hat, gezeigt.
Ab diesem Moment kippt die gesamte Romanhandlung ins Märchenhafte um und verliert doch kaum ihren Reiz. Die todkranke Titine landet im Krankenhaus und weiß, dass Martin sie aufsuchen wird. Einer Fee gleich darf Martin drei Wünsche äußern, die sie erfüllen will.
Warmherzig und ohne falsche Sentimentalität erzählt die französische Autorin Tatiana de Rosnay von zwei Menschen, die auf eine wundersame Weise im anderen einen Menschen sehen, den sie sehr vermisst haben. Tatiana de Rosnays leichte Sprache zieht jeden in die einfühlsame Geschichte hinein, die aufwühlt und zum Ende einfach nur tröstet.