Ann Cleeves: Die tiefste Nacht . Vera Stanhope ermittelt, Aus den Englischen von Stefanie Kremer, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2023, 448 Seiten, €14,00, 978-3-499-01061-3
„Vera hockte in ihrem Büro und brütete vor sich hin. Über eine ältere, gebildete Frau, deren Dasein mit guten Taten und Theaterbesuchen ausgefüllt war. Über ein junges Mädchen, das aufgehört hatte zu essen, um ein wenig Ordnung in sein Leben zu bringen. Über ihre eigene, absonderliche Familie, die dem niederen Landadel angehörte und, obwohl Herrscher über alles, was sie überblicken konnte, angespannt wirkte, besorgt, die mit sich selbst alles andere als im Reinen war.“
Wer durch Zufall die Fernsehserie „Vera“ mit der unvergleichlichen, englischen Schauspielerin Brenda Blethyn entdeckt hat, der hat sicher auch sehr viel Zeit, um die im Norden Englands angesiedelten Romane von Ann Cleeves zu lesen. Ihre gestandene Ermittlerin, die mit der Polizei verheiratet ist, zeichnet sich durch sehr unenglische Direktheit, Zielstrebigkeit und vor allem eins aus, sie umgeht gern Regeln und spricht jeden respektlos mit „Herzchen“ an.
Kurz vor Weihnachten herrscht ein ungeheurer Schneesturm in Northumerland. Es ist extrem kalt, windig und man kann beim Fahren kaum die Straße sehen. Als Vera Stanhope in diesem Extremwetter zu ihrem kleinen Cottage fahren will, kollidiert sie fast mit einem Wagen, dessen Türen offen stehen. Sie entdeckt im Innern des Autos ein kleines Kind. Der Zufall will es, dass in der Nähe in Brockburn ausgerechnet das Herrenhaus steht, in dem Veras durch die Spielsucht der Ahnen verarmte Verwandtschaft lebt, mit der sie seit dem Tod ihres eigensinnigen Vaters Hector nichts mehr zu tun hat. Um Hilfe zu holen, und auch nach der Mutter und dem Vater des Kindes zu suchen, macht sie sich schweren Herzens auf den Weg, denn sie braucht einen Festnetzanschluss, das es kein Internet gibt.
Multiperspektivisch erzählt Ann Cleeves mal aus Veras Sicht, dann aus der Sicht ihres Teams, Joe Ashworth und Holly Jackman, oder aus dem Blickwinkel von Veras Cousine Juliet. Doch dann muss Vera ihr Team zum heruntergekommenen Herrenhaus beordern, denn die Leiche der sehr jungen Lorna Falstone wird gefunden. Jemand hat sie brutal erschlagen. Vera sorgt sich sehr um Thomas, den einjährigen Sohn von Lorna, der nun zu seinen Großeltern, sehr einsilbigen Schafzüchtern, gebracht wird. Sie hatten sich mit ihrer Tochter, die ernsthaft an Bulimie erkrankt war, überworfen. Nach einem Aufenthalt in einer Privatklinik kehrte Lorna nicht zu den Eltern zurück, sondern bezog ein kleines Häuschen. Vera beginnt nun mit ihren Befragungen und diese zeigen, wie sehr in diesen dörflichen Gegenden Klatsch und Tratsch gedeihen. Jeder beobachtet jeden und jeder weiß über jeden Bescheid oder glaubt es zumindest. So hielt sich lang das Gerücht, dass Lorna, wenn sie den Bus nach Newcastle nahm, zu ihrem reichen Geliebten und Vater des Kindes fuhr. Immer wieder muss Vera diese Fantasiegeschichten abklopfen, um festzustellen, dass alles nur gelogen ist. Lorna hatte viele Geheimnisse und diese hütete sie, denn sie brauchte diese Kontrolle über ihr Privatleben, um nicht wieder magersüchtig zu werden.
Einen guten Kontakt hatte Lorna zu ihrer sympathischen Nachbarin, einer pensionierten Lehrerin namens Constance Brown. Aber weder sie, noch Lornas Mutter wussten, wer der Vater des Kindes sein könnte. Durch ihr Kind, aber auch durch den Malkurs, den die durchaus begabte Lorna besuchte, gewann sie an Selbstbewusstsein. Sie zeichnete immer wieder ein Cottage, dass Vera auch ausfindig macht und sie liebte Robert Frost und seine Gedichte über „die tiefste Nacht“. Als dann die ebenfalls ermordete Constance Brown gefunden wird, weiß Vera, dass ihre Ermittlungen in völlig falsche Richtungen führten. Ebenfalls auf ein Gerücht hörend, glaubte Vera, dass Lorna vielleicht doch die Tochter des vor drei Jahren verstorbenen Crispin Stanhope, ihrem Onkel, sein könnte. In diesem Fall wäre es um Geld und Erbschaftsfragen gegangen. Doch dies stellt sich als Fehlmeldung heraus. Vera muss völlig umdenken und sie muss ihr Bild von der hilfsbedürftigen Lorna revidieren.
Atmosphärisch dicht geschrieben entführt dieser Krimi mit seiner originellen Ermittlerin und deren Team mitten in die nordenglische wilde Landschaft und ins Dorfleben, dass für Stadtmenschen vielleicht doch etwas fremd bleibt. Ist es ein Rückzugsort für Gescheiterte, so ist es aber auch ein Sehnsuchtsort für Menschen, die glauben, in der Natur achtsamer leben zu können und wiederum für andere, die fern jeglicher Romantik von ihren Tieren leben müssen und hart arbeiten.
Spannend bis zur letzten Seite – empfehlenswert!