Max Reiter: Erinnere dich!, FISCHER Verlag / Scherz, Frankfurt a.M. 2023, 336 Seiten, €16,00, 978-3-651-02505-9
„Ich war offenbar nicht derjenige, für den ich mich gehalten hatte. Wer war ich dann? Mein ganzes Leben war ins Schleudern geraten.“
Als Dozent für englische Literatur arbeitet Dr. Arno Seitz an der Humboldt – Universität zu Berlin. In seinem Seminar über die Schauergeschichten von Edgar Allan Poe fällt ihm ein Student auf, der ihm später im Laufe der Handlung eine von ihm selbst geschriebene Geschichte mit dem Titel „Die verlorene Frau“ zur Begutachtung übergeben wird. Diese erinnert den Ich -Erzähler Arno erschreckend an seine eigenen Erlebnisse vor gut zwanzig Jahren. Auf einer Wanderung in den Bergen mit drei Schulfreunden, Arno stammt aus einem kleinen Ort in Bayern, verschwindet auf mysteriöse Weise seine erste große Liebe und Freundin Maja. Vor kurzem hat ihm jemand sogar ein Billighandy geschickt, und ihn mit Majas technisch nachgemachter Stimme zum Erinnern aufgefordert. Doch warum lässt sich Arno auf dieses Psychospielchen ein? Hat ihn der nicht gerade literarisch eindrucksvolle Text seines Studenten verunsichert? Arno Seitz lebt gern für sich, ist misstrauisch, wenn sich Menschen ihm offenbaren und will auch nichts von Problemen anderer hören. Er erzählt so gut wie nichts von sich, da er durch seinen alkoholkranken Vater, der ihn zu oft geschlagen hat, erfahren hat, dass es nichts bringt, sich jemandem anzuvertrauen. Als ihn seine amerikanische Freundin per Telefonat auch noch verlässt, schiebt er den Schmerz von sich und igelt sich immer mehr ein. Auch wenn er eigentlich nicht zum Klassentreffen nach Wendling fahren wollte, entschließt er sich doch zum Wiedersehen mit den damaligen Freunden.
Nach Majas Verschwinden hatte er nur noch kurze Zeit Kontakt zu Lukas, der im Ort nun als Zahnarzt arbeitet und Ulrike, die jetzt als Kriminalkommissarin in Rosenheim tätig ist. Sie berichtet Arno, dass sie noch immer nach Maja sucht. Auf dem Treffen sieht Arno auch Claus Amann, einen Lehrer, der ihm in guter Erinnerung geblieben ist, da er sich nach Majas Verschwinden sehr um ihn gekümmert hatte. Als Überraschung taucht auf dem Treffen Majas kleine Schwester Anja auf. Arno spürt, dass sie ihn sehr an Maja erinnert und als sie den Vorschlag macht, dass man doch zu viert nochmals die Wanderung wiederholen könnte, stimmen alle zu.
Erschreckend für Arno ist, dass die geheimnisumwitterte Stimme, die ihn per Billighandy immer wieder anruft, über alles Bescheid weiß. Will diese Person wirklich, dass er sich erinnert oder will sie ihm helfen, sich von seiner Last zu befreien? Langsam beginnt sich Arno in eine Idee hineinzusteigern, die ihn nicht mehr loslässt. Durch seine Eifersucht angetrieben, glaubt er, auch bedingt durch seine damaligen Minderwertigkeitsgefühle, dass er Maja geschlagen haben könnte und sie dann getötet hat. Der Unbekannte sendet ihm sogar Fotos von Maja, auf denen sie eindeutige Blessuren hat.
Immer instabiler fühlt sich Arno und immer öfter greift er zum Alkohol, um sich zu betäuben.
Als er dann durch die Stimme des Handys animiert auch noch die Stelle in der Höhle nahe der Wanderhütte, an der der Leichnam von Maja abgelegt wurde, findet, glaubt er wahrhaft der Mörder seiner Freundin vor zwanzig Jahren zu sein. Es wäre so leicht, Ulrike alles zu beichten.
Doch dann gehen Beweise bei der Polizei ein und Claus Amann wird verhaftet und gibt den Mord an Maja zu, revidiert allerdings das Geständnis später. Arnos Nerven liegen blank, denn nun glaubt er, ein Unschuldiger müsse für ihn ins Gefängnis. Außerdem erfährt er, dass Maja mit Amann eine Affäre hatte, die sie öffentlich machen wollte. Doch was stimmt an all diesen Behauptungen? Warum sind Erinnerungen oftmals falsch und trotzdem glaubt man, dass sie real und wahr sind? Und warum kann Ulrike als ermittelnde Polizistin alle Informationen sozusagen brühwarm an Arno weitergeben? Will sie ihn aus der Reserve locken oder glaubt das nur die Rezensentin?
Max Reiter spielt mit den verwirrenden Ebenen des Erinnerns. Wie kann man diesen doch so subjektiven Vorgang manipulieren und dem anderen glaubhaft vorgaukeln, dass Erinnerungen zu bestimmten Vorgängen, die Jahrzehnte zurück liegen, wirklich stimmen? Durch den Ich-Erzähler Arno führt der Autor den Lesenden ganz nah an das Gedankenkarussell der verunsicherten Hauptfigur und am Ende ist alles – natürlich – völlig anders.
Psychologisch überzeugender Krimi!