Jodi Picoult: Ich wünschte, du wärst hier, Aus dem Amerikanischen von Elfriede Peschel, C.Bertelsmann Verlag, 416 Seiten, €22,00, 978-3-570-10416-3
„Meine einzige Erklärung dafür ist, dass ich mir nicht nur das Virus eingefangen habe, sondern auch noch verrückt geworden bin.“
Kein dystopischer Roman konnte uns je vor Covid-19 warnen. Wer sich auf keinen Fall an die Zeit der Pandemie erinnern will, sollte dieses Buch nicht in die Hand nehmen. Wer allerdings gedanklich noch einmal zwei Jahre zurückgehen will und spüren, wie verzweifelt die Menschheit angesichts dieses scheinbar unbezwingbaren Virus war, der ist bei Jodi Picoult und ihren literarischen Figuren genau richtig.
Alle sind, wie 2020 unermüdlich gesagt wurde, auf Sicht gefahren, denn niemand wusste genau, was zu tun war. So ergeht es auch dem jungen New Yorker Arzt Finn Colson, der Tag und Nacht im Krankenhaus Menschen dabei zusehen muss, wie sie an Beatmungsgeräten um ihr Leben kämpfen.
Ärgerlich ist, dass er eigentlich mit seiner Freundin Diana auf die Galapagosinseln reisen wollte.
Als Ich – Erzählerin berichtet die neunundzwanzigjährige Diana O’Toole hautnah von den Geschehnissen zu Beginn der Pandemie. Sie entschließt sich, allein zu fliegen. Auf der Insel Isabela angekommen, wird klar, alle Hotels, die Restaurants und zum Teil auch die Supermärkte sind geschlossen. Als einzige Touristin, die zu allem Unglück auch noch ihren Koffer verloren hat und kein Spanisch versteht, findet Diana Unterschlupf bei einer alten, einheimischen Frau namens Abuela, was eigentlich Großmutter heißt. Diana hat nun Zeit für sich. Sie erinnert sich an ihre Arbeit als Kunstexpertin bei Sothebys, ihre problematische Beziehung zu ihrer einst als Fotografin berühmten Mutter, bekommt, wenn es klappt E-Mails von Finn, der in Arbeit versinkt und ständig mit dem Tod konfrontiert ist und sie schreibt ganz altmodisch Postkarten an ihren Liebsten. Auf der Insel lernt sie die fantastische Flora und Fauna kennen und sie freundet sich nach einigen Querelen mit Abuelas Sohn Gabriel und seiner Tochter an. Über allem schwebt natürlich immer auch der Gedanke an Charles Darwin und seine wissenschaftlichen Erkenntnisse, in deren Zentrum die Anpassungen an Entwicklungen in der Natur stand.
Nach vierzehn Tagen glaubt Diana etwas naiv, dass sie wieder nach New York zurückfliegen kann. Doch die Welt hat sich in dieser kurzen Zeit sehr verändert. Viele Menschen haben ihre Arbeit verloren, alle Flüge sind storniert und somit muss die junge Frau auf der Insel bleiben. Durch die E-Mails von Finn erinnern sich die Lesenden daran, welche Zustände in Krankenhäusern
in den USA ( auch in Italien oder Deutschland ) herrschten. Illegal Eingewanderte trauten sich in New York, davon berichtet Finn, nicht zum Notdienst. Doch wenn sie sich endlich dazu durchringen konnten, war es meistens für Menschen auch im Alter von Anfang zwanzig zu spät.
Jodi Picoult lässt die Lesenden in dem Glauben, alles sei realistisch. Obwohl man sich beim Lesen manchmal fragt, wie kann es sein, dass Finn Zeit hat, um lange E-Mails zu schreiben. Tragisch ist, dass Diana, auch zufällig, Kontakt zum Heim ihrer Mutter bekommt und sie per
FaceTime zum letzten Mal sieht. Nie hatte die Mutter wirklich Zeit für ihr Kind. Diana erinnert sich nur an ihren viel zu früh verstorbenen Vater in Liebe und Dankbarkeit. Er hat ihre Interessen gefördert, denn sie hat ihn, den Restaurator, oft zu seinen Arbeitsorten begleitet.
Clever ist, wie die amerikanische Autorin Jodi Picoult die Lesenden in die Irre führt. Denn plötzlich wird klar, nichts von dem, was auf der Insel weit fort von New York geschehen ist, war real.
Ausgehend davon, dass Menschen, denen Sauerstoff zugeführt wird, in Fantasien abgleiten, hat sich Diana ihren Abenteuerurlaub nur vorgestellt. Sie ist nie auf der Insel Isabela gelandet, sie hat nie die Menschen kennengelernt, an die sie so lebensechte Erinnerungen hat. Sie ist einen Tag vor ihrer Urlaubsreise erkrankt und musste dann im Krankenhaus, mit Finn in ihrer Nähe, beatmet werden.
Das ist ein spannender Einfall, um die Erzählung dann wieder auf die Füße zu stellen und die Perspektive zu wechseln.
Kraftvoll in den großen Bezügen zu den Pandemiegeschehnissen, die alle bewegt haben, filigran in den Charakterstudien und voller Jubel über die Schönheit des Lebens, liest sich dieser Roman. Ein starkes, intensives Lektüreerlebnis, geeignet, um über die eigenen Erfahrungen nachzudenken und sich klarzumachen, wie wichtig auch heute noch das Tragen der Masken in geschlossenen Räumen ist.