Rebecca Wait: Meine bessere Schwester, Aus dem Englischen von Anna-Christin Kramer,
Kein & Aber, Zürich 2022, 507 Seiten, €26,00, 978-3-0369-5882-8
„Hanna wird ständig zu Alice abgeschoben, die nur auf der Welt ist, um Hannas Geduld auf die Probe zu stellen. …. Aber warum? Hanna hat nie um Alice gebeten. Wenn sie könnte, würde sie sie zurückgeben. In der Schule lernen sie die Geschichte von Kain und Abel, und selbstverständlich identifiziert Hanna sich mit Kain. Aber hat er es nicht besser verdient, wenn er so tranig durch die Gegend geschlurft ist wie Alice, wenn er die gleichen komischen Bastelprojekte und großen feuchten Augen hatte. Der arme Kain. ‚Sei lieb zu Abel‘, haben wahrscheinlich ständig alle zu ihm gesagt.“
Hanna und Alice sind zweieiige Zwillinge und sie könnten nicht unterschiedlicher sein. Die vielbeschworene Mär von dem Zusammengehörigkeitsgefühl von Zwillingen trifft auf diese beiden Mädchen nicht zu. Hanna ist wild, neugierig, intelligent, das Problemkind der Mutter und das Lieblingskind des Vaters. Alice dagegen ist still, schüchtern, ängstlich und das Kind, dass die Mutter mehr mag und als Erwachsene nie loslassen wird. Dabei liebt die Mutter ihren ältesten Sohn Michael noch mehr als ihre beiden Töchter, die das natürlich spüren.
Rebecca Wait hat kein „lustiges“ Buch, wie es auf dem Cover berichtet wird, geschrieben. Ganz im Gegenteil, es ist die Geschichte einer dysfunktionalen Familie, in der höchstens Hanna sich zu sarkastischen Äußerungen hinreißen lässt. Witzig ist hier gar nichts.
Alles beginnt mit der Beerdigung von Tante Katy, der Schwester von Celia, der Mutter der Zwillinge. Hanna ist aus dem Ausland zurückgekehrt und wird nun nach vier Jahren Abwesenheit und auch Schweigen gegenüber der Familie in London bleiben, um eine Stelle im Außenministerium anzunehmen. Alice und Hanna sind zu diesem Zeitpunkt Anfang dreißig. Alice lebt immer noch in einer Wohngemeinschaft und kann sich nicht aus dem Klammergriff ihrer besitzergreifenden Mutter, die ihre volle Aufmerksamkeit einfordert, befreien. Seltsamerweise hat die farblose Alice Archäologie studiert und arbeitet nun als Assistentin in einer Personalabteilung. Hanna hat sich nach einem heftigen Streit längst von allen in der Familie distanziert. Michael, als Kind ein Lügner und Dieb ( Seine Mutter hat ihn immer behütet und den Lehrern widersprochen.), arbeitet als Rechtsanwalt und scheint nur eine Aufgabe im Leben zu sehen, andere darüber zu belehren, wie wichtig Immobilieneigentum ist.
Rebecca Wait erzählt nicht chronologisch, sondern springt in den Zeiten hin und her. So schildert sie Celias triste Kindheit, die als hässliches Mädchen immer im Schatten ihrer schillernden wie launischen Schwester Katy steht. Dass Katy dann am Ende der Pubertät in der Psychiatrie landet, hätte niemand erwartet. Celia gleicht in vielem ihrer Tochter Alice, die nie Freunde findet und sich schwer tut, in Gemeinschaften Anschluss zu finden. Als die egoistische Celia sich dann ihren Ehemann Paul krallt, eigentlich der Verlobte ihrer einzigen Freundin Anne, die sie eifersüchtig umgarnt hat, sagt nichts Gutes über ihren Charakter. Celia bekleckert sich auch als Mutter nicht mit Ruhm, denn sie straft ihre Kinder grausam und mit Schweigen, wenn diese nicht so funktionieren, wie sie es erwartet. Dass sich dann Paul, als die Zwillinge dreizehn Jahre alt sind, aus dem Staub macht, scheint auch niemanden zu verwundern. Mit der Scheidung muss Celia finanzielle Einbußen hinnehmen und auch als die Kinder aus dem Haus sind zu ihrem Ärger wieder als Lehrerin arbeiten.
Schaut man in die Kindheit von Alice und Hanna, dann ist Alice immer wieder ein Mobbing-Opfer.
Hanna will in der Schule und zu Hause nichts mit ihrer Schwester zu tun haben, schützt sie aber, wenn fiese Mitschülerinnen sie ärgern. Alice sehnt sich immer nach einer Verbindung zur Schwester, kann diese jedoch nie erreichen. Hanna weiß, dass Alice sich immer mit der verhassten Mutter austauscht und diese unter dem Mäntelchen der Sorge auf Hannas Absturz wartet.
Als dann Hanna während ihres Studiums in Cambridge völlig überfordert in der Psychiatrie landet, scheint das heraufbeschworene Bild der Mutter von der kranken Tochter endlich zu stimmen.
So wie die vielschichtigen Figuren dargestellt werden, kann es in dieser Familie nie harmonisch zugehen. Paul hat sich kaum um seine Kinder gekümmert, obwohl er als erfolgreicher Spielzeugeinkäufer eigentlich einen Draht zu Kindern haben müsste. Nur Hanna war ihm vielleicht wichtig, immerhin rettet er für sie, bevor seine dritte Frau alles an sich reißt, kurz vor seinem unerwarteten Tod eine große Summe Geld.
Von außen betrachtet sehen die Lesenden alle Schwachpunkte und werden doch auch aus den einzelnen Familienmitgliedern nicht schlau. Das macht die Spannung der gut geschriebenen Handlung aus, die sich über Jahre hinzieht und sich von Generation zu Generation irgendwie im Kreis dreht.