Tessa Hadley: Freie Liebe, Aus dem Englischen von Christa Schuenke, Kampa Verlag, Zürich 2022,
384 Seiten, €22,00, 978 3 311 10042 3
„Nein wirklich, dachte er nach einer Weile, was soll ich mit ihr anfangen im Lauf der Zeit? Sie war kein junges Mädchen mehr, sondern eine erwachsene Frau. Sie würde ein richtiges Zuhause brauchen und konnte nicht immer bei ihm in seinem Zimmer bleiben. Wovon sollten sie leben, wenn das Geld der Mutter aufgebraucht war? Was er verdiente, reichte ja nicht mal für ihn selber.“
Die attraktive Phyllis Fischer lebt ihrem Ehemann Roger, der als Altphilologe und Arabist als Beamter im Außenministerium in London tätig ist, glücklich und zufrieden mit ihren zwei Kindern in einem Vorort. Sie geht zu einigen Zirkeln, ab und zu auch in die Kirche, weil sie die ruhige Atmosphäre dort schätzt, ohne wirklich an Gott zu glauben, kümmert sich um die fünfzehnjährige Colette und den neunjährigen Hugh, der allerdings bald, wie es sich gehört, auf ein Internat gehen wird.
Es ist das Jahr 1967, die Welt ist in Aufruhr, nur bei den Fischers läuft alles wie immer in bürgerlicher Gemütlichkeit und festgefügten Verhaltensformen. Jeden Sonntag geht die Familie zum Mittagessen zu Rogers Schwester Marnie, die anmaßend laut und rauchend die Asche beim Kochen ins Essen fallen lässt.
Als Roger Fischer dann den Sohn seiner Jugendfreundin Jean einlädt, gerät die gesamte innere Sicherheit von Phyllis ins Schwanken. Nicholas Knight ist kaum begeistert vom Arrangement seiner Mutter. Roger und Phyllis haben den Jungen vor Jahren bei einem Besuch kurz gesehen und würden ihn kaum auf der Straße wiedererkennen. Nicky, wie ihn Phyllis später nennen wird, kommt auch gleich mal eine Stunde zu spät zum Essen und provoziert durch seine herablassende, wie arrogante Art und wirkt nicht gerade sympathisch. Er schreibt für verschiedene Zeitschriften über neue Filme und bildende Kunst. Phyllis, die den Eindruck hat, dass Nicky sie von Anfang an nicht mag, flirtet mit ihm und verärgert dadurch ihre leicht übergewichtige Tochter, die momentan mit der Welt und allem hadert. Doch dann müssen alle durch einen idiotischen Anruf der Nachbarin, den Schuh ihres Sohnes suchen. Nicky und Phyllis kommen sich im Dunkeln näher und Nicky küsst die völlig überraschte vierzigjährige Frau.
Dieser Kuss, der so ganz anders ist, als das was Phyllis bisher kannte, löst in ihr die Sehnsucht zum einen nach Nicky aus, zum anderen scheint er ihr die Augen, über ihr doch bisher so langweiliges Leben zu öffnen. Mit ihren Schwestern kann sich Phyllis nicht austauschen, auch nicht mit ihren sogenannten Freundinnen in der Freitagsdiskussionsgruppe und auch nicht mit ihrem Vater, der unter der Fuchtel der Haushälterin Marcia steht.
Phyllis jedenfalls besucht Nicky in seiner total chaotischen Wohnung, die in einem ziemlich heruntergekommenen Wohnviertel Londons, einem Abrisshaus, liegt. Sie beginnen eine Affäre, wobei Nicky und Phyllis sich nicht nur vom Alter her unterscheiden, sondern auch durch ihre Lebenserfahrungen und Erwartungen. Erstaunlich ist, wie sich Phyllis beginnt zu verändern. Sie fühlt sich bei Nicky und seinen Künstlerfreunden zwar fremd, aber sie ist auf alles Neue neugierig.
Und dann nach einer extrem langweiligen Einladung in der wohlsituierten Nachbarschaft verlässt Phyllis ihren Ehemann. Sie hinterlässt eine nichtssagenden Nachricht und zieht bei Nicky ein. Roger ahnt nach einer Weile, dass seine Frau, die er nicht sonderlich zu vermissen scheint und die offenbar nicht seine „Herzgefährtin“ war, ihn verlassen hat. Belastend und als peinlich empfindet er, dass er nun die Familie anlügen muss. Colette und Hugh verstehen, als die Mutter auch zu Weihnachten nicht vor der Tür steht, dass sie für immer fort ist. Hugh reagiert mit Aggression und gespielter Gleichgültigkeit, Colette beschließt ebenfalls ihr Leben zu ändern. Sie nimmt ab, ersetzt die Brille durch Kontaktlinsen und schwänzt mit ihren Freundinnen die Schule.
Phyllis weiß, dass ihre Beziehung zu Nicky nicht von langer Dauer sein kann. Ohne Reue sucht sie für sich ohne Beruf, ohne Wohnung oder gar Vermögen einen Weg. Sie schreibt an ihren Mann Briefe, aber ohne Hinweis auf ihren Aufenthalt. Doch allzu lang kann sie nicht verschweigen, wo sie lebt. Als sie dann schwanger ist, fühlt sie sich glücklich, Nicky spürt den zunehmenden Druck.
Er schläft mit anderen Frauen und auch das akzeptiert Phyllis. Colette wird sie finden und auch die verhasste Schwägerin wird ihren Teil an Bösartigkeit beisteuern. Denn auch Roger verbirgt ein Geheimnis und das hat mit Nicky zu tun.
Zwischen freier Liebe, Existenzängsten, aber auch Sehnsüchten nach Unbeschwertheit und Beschäftigung blüht Phyllis auf und entdeckt all ihre verborgenen starken Seiten.
Im Gegensatz zu ihren Leidensgefährtinnen Anna Karenina oder Madame Bovary geht sie nicht unter, sondern kann sich im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen auf ihre Weise verwirklichen.
Feinfühlig schlägt sich Tessa Hadley auf die Seite ihrer willensstarken und empfindsamen Figuren und zeigt Menschen in privaten wie gesellschaftlichen Umbruchsituationen.