Miranda Cowley Heller: Der Papierpalast, Aus dem amerikanischen Englisch von Susanne Höbel,
Ullstein Verlag 2022, 446 Seiten, 23,99 Euro, 978-3-550-20137-0
„Ich stelle mich nackt vor den klarsten Teil des Spiegels und suche nach einem äußeren Merkmal, das von der inneren Wahrheit kündet, dem Panikgefühl in mir, der Gier, dem Bedauern, dem atemlosen Verlangen nach mehr. Aber ich sehe nur die Lüge.“
Eleonor Bishop verlebt gute fünfzig Jahre ihre Sommer immer in Cape Code, im so genannten „Papierpalast“. Diesen hatte ihr Großvater eigenhändig gebaut und aus Geldgründen mit dicken gepressten Pappen ausgestattet. Ganz besonders lieben die Mäuse dieses Papier und so müssen die Sommergäste jedes Jahr vor Beginn der Ferien erst mal die Mäusenester aus den einzelnen Hütten beseitigen. Eleonor, Elle genannt, hasst das zutiefst. Sie ist die Erzählerin ihrer fast chronologisch aufgerollten Familiengeschichte. Im Laufe eines Tages schläft die glücklich verheiratete Mutter von drei Kindern mit ihrem Jugendfreund Jonas, den sie von Kind an kennt, und sie erinnert sich in einem von den Tagesgeschehnissen unterbrochenen Gedankenstrom an markante Familienszenen aus der Zeit von 1970 bis heute. Unvergesslich, das Trauma ihres Lebens. Jonas und sie hüten dieses Geheimnis ein Leben lang.
Verheiratet ist Elle, die als Literaturwissenschaftlerin an der Universität lehrt, mit dem Engländer Peter, der aus guter Familie kommt und als Journalist arbeitet. Sie leben mit ihren drei Kindern in New York und sind in den Ferien natürlich im Papierhaus. Mit dabei immer die widerborstige oft hochmütige Mutter Wallace, die sich früh von ihrem Mann hat scheiden lassen. Elle und Anne sind als Kinder und Jugendliche zwischen den Eltern hin- und hergerissen. Elle wird immer mit ihrem Vater über die neuen Frauen an seiner Seite in Streit geraten. Gerade in der Pubertät versinken die Patchworkfamilien in Konflikten, denn auch Wallace verliebt sich in Leo und er bringt ebenfalls Kinder mit in die Familie.
Wallace selbst wurde von ihrem Stiefvater missbraucht, ohne dass die wissende Mutter, aus Angst mittellos dazustehen, eingegriffen hat. Auch Elle wird in der neuen Familienkonstellation etwas Schlimmes geschehen, über das sie nicht sprechen kann.
Zwischen Cape Code und New York pendeln nun die Familien, deren Mitglieder fast allesamt in künstlerischen Berufen tätig sind.
Als Elle und Jonas sich kennenlernen, ist er acht Jahre alt und hat sich verlaufen und sie ist elf und fühlt sich wie eine Mutter, die ihn an der Hand nach Hause bringt. Vier Jahre später werden sie enge Freunde und scheren sich nicht um den Altersunterschied. Die große Nähe der beiden und der Schmerz, den Elle verkraften muss und die Entscheidungen werden sie jedoch wieder auseinandertreiben. Elle heiratet Peter und Jonas entscheidet sich für Gina, die Elle nicht ausstehen kann. Wie der Tag ausgeht, bleibt das große Rätsel, denn die Frage ist natürlich, warum sollte sich Elle von Peter, dem Vater ihrer Kinder trennen, der einfach nur fantastisch ist.
Vor dem inneren Augen läuft diese Familiengeschichte mit all ihren Verzweigungen und zahlreichem Personal ab und natürlich sitzt die amerikanische Autorin längst an einer Serien-Fassung.
Denn natürlich ist es schon einmalig, dass eine Frau in der Mitte ihres Lebens zwischen zwei Männern steht. Starke Frauen tauchen in den Geschichten auf, die beruflich erfolgreich sind und ambivalent dargestellt werden. Erzählt wird aus der Perspektive von Elle, die genauestens das Lebensgefühl gerade in den 1980er , 1990er Jahren und Nullerjahren des neuen Jahrtausends mit allen Freizügigkeiten, ohne politisch in die Tiefe zu gehen, festhält. Dramaturgisch raffiniert führt die Autorin die Geschichte zum Glück an kein bitteres Ende, spart aber auch nicht mit Schicksalsschlägen.
Wer den Roman „Der Papierpalast“ öffnet, ist fasziniert von der Erzählkunst von Miranda Cowley Heller, denn sie kann szenisch wunderbar schreiben, Spannungen aufbauen und dabei trotz aller Tragik im Leben ihrer fiktiven Figuren witzig sein. Es geht um Familie und Verantwortung, so viel kann man verraten, und man schlägt das Buch zu mit einer Stimmung, die beschwingt ist und melancholisch, berührt und nachdenklich und abgeklärter, aber in jedem Fall bereichert.